Krieg und Frieden. Leo Tolstoi

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Название Krieg und Frieden
Автор произведения Leo Tolstoi
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754188620



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Ihrem Brief zugegangen, und mein Vater war davon tief ergriffen. Er sagt, das sei der vorletzte Repräsentant jenes großen Jahrhunderts gewesen, und nun komme er selbst an die Reihe; indes werde er tun, was in seinen Kräften stehe, um erst möglichst spät daranzukommen. Gott wolle uns vor diesem furchtbaren Unglück bewahren!

      Ihre Meinung über Pierre, den ich schon gekannt habe, als wir noch Kinder waren, vermag ich nicht zu teilen. Er schien mir immer ein vortreffliches Herz zu besitzen, und das ist die Eigenschaft, die ich an den Menschen am höchsten schätze. Was seine Erbschaft anbelangt und die Rolle, die Fürst Wasili dabei gespielt hat, so ist das für alle beide recht traurig. Ach, liebe Freundin, das Wort unseres göttlichen Erlösers, es sei leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher in das Reich Gottes komme, dieses Wort ist ebenso wahr als furchtbar; ich beklage den Fürsten Wasili, aber noch mehr bedauere ich Pierre. So jung noch und dabei mit diesem Reichtum belastet, welche Versuchungen wird er da nicht durchzumachen haben! Wenn man mich fragte, was ich mir auf der Welt am meisten wünschte, so wäre mein Wunsch der, ärmer zu sein als der ärmste Bettler. Tausend Dank, liebe Freundin, für das mir freundlichst übersandte Werk, das bei Ihnen so großes Aufsehen erregt. Da Sie mir indessen schreiben, es enthalte neben mancherlei Gutem auch anderes, an das die schwache menschliche Vernunft nicht heranreicht, so scheint es mir ziemlich zwecklos, sich mit einer unverständlichen Lektüre zu beschäftigen, die eben deshalb keinerlei Vorteil gewähren kann. Unbegreiflich ist mir immer die Passion mancher Leute gewesen, sich die eigene Denkkraft dadurch zu verwirren, daß sie sich mit mystischen Büchern abgeben, die nur Zweifel im Geist des Lesenden erregen, seine Phantasie überreizen und seinem ganzen Wesen etwas Übertriebenes geben, das zu der christlichen Einfalt im schroffsten Widerspruch steht. Wir tun besser, die Schriften der Apostel und die Evangelien zu lesen. Aber auch da sollen wir nicht den Versuch machen, in das einzudringen, was sie Mysteriöses enthalten; denn wie könnten wir elenden Sünder uns erdreisten, in die furchtbaren, heiligen Geheimnisse der Vorsehung eindringen zu wollen, solange wir diese fleischliche Hülle an uns tragen, die zwischen uns und dem Ewigen gleichsam eine undurchdringliche Scheidewand errichtet? Begnügen wir uns lieber damit, die erhabenen Weisungen in uns aufzunehmen, die unser göttlicher Erlöser uns für unser irdisches Leben hinterlassen hat; suchen wir, uns nach ihnen zu bilden und ihnen zu folgen; lassen wir uns von der Überzeugung durchdringen, daß, je weniger freien Spielraum wir unserm schwachen menschlichen Geist verstatten, er um so angenehmer dem Allmächtigen ist, der alle Weisheit verwirft, die nicht von Ihm kommt, und daß, je weniger wir das zu ergründen suchen, was unserer Kenntnis zu entziehen Ihm gefallen hat, Er um so eher es uns durch Seinen Heiligen Geist wird erkennen lassen.

      Von einem Bewerber um meine Hand hat mir mein Vater nichts gesagt; er hat mir nur mitgeteilt, er habe einen Brief vom Fürsten Wasili erhalten und erwarte dessen Besuch. Hinsichtlich des mich betreffenden Heiratsprojektes muß ich Ihnen, liebe, teure Freundin, sagen, daß die Ehe meiner Ansicht nach eine göttliche Einrichtung ist, der wir uns fügen müssen. Sollte der Allmächtige mir jemals die Pflichten einer Gattin und Mutter auferlegen, so werde ich, mag es mir auch noch so schwer werden, sie so treu, wie ich nur irgend kann, zu erfüllen suchen, ohne vorher eine ängstliche Prüfung meiner Gefühle gegen denjenigen vorzunehmen, den Er mir zum Gatten geben wird.

      Von meinem Bruder habe ich einen Brief erhalten, in dem er mir seine und seiner Frau baldige Ankunft in Lysyje-Gory in Aussicht stellt. Aber es wird nur eine kurze Freude sein; denn er verläßt uns, um an diesem unglückseligen Krieg teilzunehmen, in den wir, Gott weiß wie und warum, uns haben hineinziehen lassen. Nicht nur dort bei Ihnen, im Mittelpunkt des geschäftlichen und gesellschaftlichen Lebens, bildet der Krieg das einzige Gesprächsthema; auch hier inmitten dieser ländlichen Arbeiten und dieses stillen Friedens der Natur, der nach der gewöhnlichen Vorstellung der Städter auf dem Land herrscht, macht sich das Geräusch des Krieges hörbar und in schmerzlicher Weise fühlbar. Mein Vater redet nur noch von Märschen und Kontremärschen, Dingen, von denen ich nichts verstehe, und als ich vorgestern bei meinem gewöhnlichen Spaziergang durch die Dorfstraße kam, wurde ich Zeugin einer herzzerreißenden Szene. Es war ein Trupp Rekruten, die bei uns ausgehoben waren und nun zum Heer abgehen sollten. Es war entsetzlich zu sehen, in welchem Zustand sich die Mütter, die Frauen und die Kinder der abmarschierenden Männer befanden, entsetzlich zu hören, wie die Zurückbleibenden und die Wegziehenden schluchzten! Man möchte sagen, die Menschheit habe die Gebote ihres göttlichen Erlösers vergessen, der uns doch geheißen hat, einander zu lieben und Beleidigungen zu verzeihen, und suche nun ihr größtes Verdienst in der Kunst, sich wechselseitig zu morden.

      Adieu, liebe, gute Freundin! Mögen unser göttlicher Erlöser und Seine allerheiligste Mutter Sie in ihren heiligen, mächtigen Schutz nehmen.

      Marja.«

      »Ah, Sie sind dabei, einen Brief für die Post zurechtzumachen, Prinzessin; ich habe den meinigen schon fertiggestellt. Ich habe an meine arme Mutter geschrieben«, sagte rasch mit angenehmer, vollklingender Stimme, das r etwas schnarrend, die lächelnde Mademoiselle Bourienne; sie brachte in die bedrückende, trübe, ernste Atmosphäre der Prinzessin gleichsam einen Hauch aus einer ganz anderen Welt, etwas Leichtlebiges, Vergnügtes, Selbstzufriedenes.

      »Ich muß Sie warnen, Prinzessin«, fügte sie mit leiserer Stimme hinzu; »der Fürst hat einen Wortwechsel« (das Wort »Wortwechsel« sprach sie ganz besonders schnarrend und hatte offenbar ihr Vergnügen daran, sich selbst zu hören), »einen Wortwechsel mit Michail Iwanowitsch gehabt. Er ist sehr übler Laune, sehr mißgestimmt. Seien Sie also gewarnt; Sie wissen ja ...«

      »Oh, liebe Freundin«, erwiderte die Prinzessin Marja, »ich habe Sie gebeten, niemals mit mir darüber zu sprechen, in welcher Laune sich mein Vater befindet. Ich erlaube mir nicht, über ihn zu urteilen, und mag nicht gern, daß andere es tun.«

      Die Prinzessin sah nach der Uhr, und als sie bemerkte, daß bereits fünf Minuten von der Zeit verstrichen waren, die sie auf das Klavierspiel verwenden sollte, ging sie mit erschrockener Miene nach dem Sofazimmer. Die Zeit von zwölf bis zwei Uhr widmete nach der festgesetzten Tagesordnung der Fürst der Ruhe und Erholung, und die Prinzessin hatte unterdessen Klavier zu spielen.

      XXVI

      Der hochbejahrte Kammerdiener Tichon saß im Geschäftszimmer und horchte im Halbschlummer auf das Schnarchen des Fürsten im benachbarten geräumigen Arbeitszimmer. Von einem entfernten Teil des Hauses her hörte man durch die geschlossenen Türen die wohl zwanzigmal wiederholten schwierigen Passagen einer Dussekschen Sonate.

      Um diese Zeit fuhren bei dem Portal eine Equipage und eine Britschke vor. Aus der Equipage stieg Fürst Andrei aus, half seiner kleinen Frau beim Aussteigen und ließ sie vorangehen. Der greise Tichon, den Kopf mit einer Perücke bedeckt, schob sich aus der Tür des Geschäftszimmers heraus, meldete flüsternd, daß der Fürst ruhe, und machte eilig die Tür hinter sich zu. Tichon wußte, daß weder die Ankunft des Sohnes noch sonstige außergewöhnliche Ereignisse die Tagesordnung stören durften. Fürst Andrei wußte das offenbar ebensogut wie Tichon; er blickte auf seine Uhr, als ob er kontrollieren wollte, ob sich die Gewohnheiten seines Vaters in der Zeit, wo er ihn nicht gesehen hatte, auch nicht verändert hätten, und nachdem er sich überzeugt hatte, daß dies nicht der Fall war, wandte er sich an seine Frau:

      »In zwanzig Minuten wird er aufstehen«, sagte er. »Wir wollen unterdessen zu Prinzessin Marja gehen.«

      Die kleine Fürstin war in der letzten Zeit noch stärker geworden; aber ihre Augen und die sich hinaufziehende kurze Oberlippe mit dem Schnurrbärtchen und dem Lächeln, wenn sie zu sprechen begann, nahmen sich noch ebenso lustig und allerliebst aus.

      »Aber das ist ja ein wahrer Palast!« sagte sie, sich umblickend, zu ihrem Mann, mit demselben Gesichtsausdruck, mit dem man auf einem Ball sich dem Hausherrn gegenüber bewundernd äußert. »Nun, dann wollen wir schnell hingehen!« Um sich blickend, lächelte sie alle an, den Kammerdiener Tichon und ihren Mann und den sie geleitenden Diener.

      »Das ist wohl Marja, die da übt? Wir wollen leise gehen und sie überraschen.«

      Fürst Andrei folgte ihr mit höflicher, aber trüber Miene.

      »Du bist alt geworden, Tichon«, sagte er zu dem Greis, der ihm die Hand küßte.