Название | Wir statt Gier |
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Автор произведения | Gordon Müller-Eschenbach |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847631033 |
Und noch eines zeigt die Statistik: Gäbe es eine Sehnsucht nach „alten Werten“ in unserem Land, müssten die Mitgliedszahlen der katholischen Kirche, oder doch zumindest irgendeiner Kirche, durch die Decke gehen. Das Gegenteil ist der Fall.
Politik ist, wenn die Werte auf Eis liegen
Politische Ämter gehen mit einer klaren Verpflichtung, und nur dieser, einher: die Vielfalt der Bevölkerung eines Landes, von der sie gewählt wird, zu vertreten und die Rahmenbedingungen für ein friedliches gesellschaftliches Miteinander zu schaffen, das den Bewohnern einer freien Gesellschaftsordnung zusteht. Dazu gehört die Verantwortung, sich der werteprogressiven Dynamik zu stellen, die der demografische, soziologische und psychosoziale Wandel jener Gesellschaft mit sich bringt.
Mit anderen Worten: Wenn die Hälfte der Bewohner eines Landes plötzlich beschließt, sich rote Clownsnasen aufzusetzen, dann hat die Politik diese Entscheidung zu respektieren und die Rahmenbedingungen für das Tragen roter Clownsnasen im öffentlichen Raum zu schaffen. Und zwar für die Männer genauso wie für die Frauen.
Klingt banal? Schön wär’s. Das Maximum an Werteperversion, das die deutsche Politik aktuell zu bieten hat, ist der Missbrauch von Werten, die man sich vor Jahrzehnten auf die Fahnen geschrieben hat um zu verhindern, das ein ganz anderer Wandel politisch beachtet wird. Einer, der seitdem notwendig geworden ist, weil die Vorzeichen sich verändert haben. Im Fall der geschassten Gleichstellungsbeauftragten von Goslar wurden Werte, die man als progressiv betrachtet, dazu verwendet, die Beachtung noch weiter fortgeschrittener gesellschaftlicher Entwicklungen im Keim zu ersticken und die verantwortliche Politikerin mit dem Vorwurf der Werterückständigkeit aus dem Amt zu jagen. Klingt kompliziert? Ist es auch – geradezu lächerlich um die Ecke gedacht.
Die ehemalige Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Goslar, Monica Ebeling, hatte sich neben der Gleichstellung von benachteiligten Frauen nämlich auch der Gleichstellung von benachteiligten Männern verpflichtet gefühlt. Grunddemokratisch angesichts der Bezeichnung ihres Postens, sollte man meinen. Ihre Kolleginnen Frauenpolitikerinnen im Stadtrat von Goslar sahen das scheinbar etwas anders und erklärten, Ebeling wolle die „Benachteiligung von Männern aufzeigen und beseitigen – dies ist nicht unser politischer Wille“.
Man darf wohl fragen, was der politische Wille der Zepter schwingenden Politikerinnen von Goslar sein mag. Ein gesellschaftliches Klima, in dem die Männer den Frauen unterzuordnen sind? Das allerdings würde dem Wert der Gleichstellung vehement widersprechen.
Natürlich ist es den Politikerinnen in diesem wie in vielen anderen Fällen von weitaus größerer politischer Tragweite ein leichtes, ihre Handlungsweise pseudoethisch zu argumentieren: Der Wert der Gleichstellung gilt schließlich seit Jahrzehnten als unantastbar (gut soweit) und ist deshalb zum moralinsauren Totschlagargument avanciert. Augenfällig ist in diesem Fall jedoch der Eindruck, dass es bei der Entsorgung der ungeliebten Kollegin um ganz andere Dinge ging als um den Wert der Gleichstellung. Stattdessen ging es scheinbar um die Verhinderung von Gleichstellung so, wie sie im Jahre 2011 in der Stadt Goslar und vielen anderen deutschen Städten notwendig wäre. Gleichstellung, wie sie ethisch korrekt und der gesellschaftlichen Wertedynamik angemessen wäre – aber eben nicht so, wie sie politisch gewollt ist. Dass es bei der Kündigungsaffäre möglicherweise nicht einmal darum ging, sondern um persönliche Differenzen, die mittels politischer Gebietsbereinigung auf dem Rücken der Ethik ausgetragen wurden, spielt da schon beinahe keine Rolle mehr.
Abgeschafft wurde offiziell eine Gleichstellungsbeauftragte, die sich der Gleichstellung verpflichtet fühlte, weil sie gegen das Wertetikett der Gleichstellung aus jenen Zeiten verstoßen hat, in dem Gleichstellung als Legitimationsinstrument bestimmter politischer Gruppen etabliert wurde. Geradezu absurd kompliziert ist das. Geradezu absurd ist das, basta. Wie so viele Wertethemen hinkt eben auch die Gleichstellung in der Politik der gesellschaftlichen Realität um Meilen hinterher – wird aber noch immer inflationär als progressiver Wert hochgehalten, wenn es um die Legitimation von Partikularinteressen politischer Amtsträger geht.
Die Affäre um Monica Ebeling ist an dieser Stelle ein kleines Beispiel für den täglichen Ethikmissbrauch in der Politik. Natürlich gibt es genügend Beispiele mit weitaus dramatischeren Auswirkungen auf Bundesebene. Und doch ist der Fall Goslar in seinem Aberwitz besonders charakteristisch für den Missbrauch von Werten als Feigenblätter rückständiger Politik, weil hier Lokalpolitikerinnen weitgehend unmaskiert ihre Willkür auslebten, die – bis dahin – nicht so stark unter Beobachtung standen wie etwa Angehörige der Bundesregierung. Auf dieser Ebene freilich wird es noch ernster, wenn Werte missbraucht werden, um politische Macht zu legitimieren – denn genau das geschieht täglich, und immer öfter werden wir Zeugen solcher Skandale, von denen noch einige in diesem Buch Erwähnung finden.
Lobbyismus: Die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
Nur am Rande sei an dieser Stelle erwähnt, was an anderer Stelle noch eingehend behandelt wird: Die Spitzen der deutschen Wirtschaft, insbesondere der Hochfinanz, haben sich bezüglich ihres Umgangs mit Werten im Zuge der Ausdifferenzierung der föderalistischen Strukturen in Deutschland über die letzten Jahrzehnte hinweg eine dicke Scheibe von der Politik abgeschnitten. Was heute Wirtschaftsethik heißt, darf getrost als Werkzeugkoffer des Lobbyismus betrachtet werden – nicht selten kommt Ethik inzwischen sogar als schamlos ausgeweidete Marketingstrategie daher. Der Milliardenkonzern BP etwa wirbt mit Floskeln wie „saubere Kraftstoffe“ und protzt allen Ernstes damit, in den „nächsten zehn Jahren insgesamt eine Milliarde US-Dollar“ in den Bereich Biokraftstoffe zu investieren. Allein im ersten Quartal 2010, noch in der Erholungsphase von der Finanzkrise, machte der Ölkonzern einen Gewinn von 5,6 Milliarden US-Dollar.
Auch hier ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass sich hochrangige Vertreter der Wirtschaft an dem orientiert haben, was die Vertreter der Politik in unserem Land – wie in vielen anderen – vorleben. Die Mechanismen des Erfolgs gleichen nicht zufällig denen, die auch in der Politik wirksam sind. Viel zu häufig hat das eine sogar mit dem anderen zu tun.
Der Atomausstieg liefert dafür ein besonders plastisches Beispiel. Kaum hat nach den Vorfällen in Fukushima die Bundesregierung unter Zugzwang die Energiewende beschlossen, werden in den politischen Fraktionen die Gegenstimmen laut. Hier lässt sich gut nachvollziehen, wie stark Politik und Wirtschaftsmacht miteinander verkettet sind: Die Bundesregierung lässt sich vorgeblich von unabhängigen Experten beraten, um den Atomausstieg wirtschaftlich verträglich zu gestalten.
Ein Blick auf die Liste der Redner bei den ersten diesbezüglichen Anhörungen vor dem Kabinett im Juni 2011 lässt erahnen, um wessen Interessen es wirklich geht, wenn darüber verhandelt wird, wie die künftige Energiepolitik den Bürgern unter dem Deckmantel von Werten wie „Sicherheit“ und „Umweltschutz“ verkauft werden sollen: „In beiden Anhörungen sollen Stefan Kohler, Chef der halbstaatlichen Deutschen Energieagentur (Dena), und Hildegard Müller, Chefin des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), Rede und Antwort stehen. Während bei Müller klar ist, dass sie Lobby-Interessen vertreten muss, gilt Kohler als unabhängiger Experte. Das stimmt für Kohler aber ebenso wenig wie für Joachim Knebel vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT), den die FDP geladen hat. Der Etat von Kohlers Dena wird nicht unwesentlich von den großen Energiekonzernen bestritten. Im Aufsichtsrat sind das Wirtschafts- und das Umweltministerium vertreten, doch Kohler hat in den vergangenen Jahren Positionen eingenommen,