Nur Fleisch. Jack London

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Название Nur Fleisch
Автор произведения Jack London
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750203730



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Er war unzufrieden mit der Art und Weise, wie er die fünfundzwanzig Cent verbraucht hatte. Er hätte sie besser ausgeben können, und von der Kenntnis aus, die er später von dem schnellen Eingreifen Gottes erlangte, würde er Gott genarrt haben, wenn er alles Geld auf einmal verbraucht hätte. In Gedanken verbrauchte er die fünfundzwanzig Cent mindestens tausendmal, und jedesmal bekam er mehr dafür.

      Es gab noch eine Erinnerung an die Vergangenheit, unklar und verblichen, aber für alle Ewigkeit seiner Seele durch die grausamen Füße seines Vaters eingehämmert. Es war mehr ein böser Traum als die Erinnerung an etwas wirklich Erlebtes – mehr wie die Rassenerinnerungen der Menschheit, die sich melden, wenn man einschläft, und die zu den Tagen zurückgehen, da die ersten Vorfahren in den Baumwipfeln lebten.

      Diese eine Erinnerung kam Johnny nie in vollem Tageslicht, wenn er ganz wach war. Sie kam des Nachts, wenn er im Bett lag, in dem Augenblick, da sein Bewusstsein ihn verlassen und sich im Schlaf verlieren wollte. Der Schreck machte ihn stets ganz wach, und in dem Augenblick, wenn das erste würgende Gefühl von Angst ihn überkam, war ihm, als läge er quer über dem Fußende des Bettes. Im Bett konnte er undeutlich die Umrisse seines Vaters und seiner Mutter unterscheiden. Er wußte nicht, wie sein Vater ausgesehen hatte. Er hatte nur einen einzigen Eindruck von seinem Vater, und der war, daß er sehr harte und schonungslose Füße hatte.

      Er bewahrte alle Erinnerungen aus seinen frühesten Jahren, aus seinen späteren aber besaß er keine. Ein Tag war wie der andere. Gestern oder vorgestern war dasselbe wie tausend Jahre – oder eine Minute. Es geschah nie etwas. Es gab keine Ereignisse, die den Flug der Zeit angegeben hätten. Die Zeit flog überhaupt nicht. Sie stand immer still. Nur die wirbelnden Maschinen bewegten sich, und die kamen nicht vorwärts – obgleich sie sich mit immer größerer Schnelligkeit bewegten.

      Als er vierzehn Jahre alt war, wurde er in die Stärkerei versetzt. Das war ein ungeheures Ereignis. Jetzt war doch endlich etwas geschehen, dessen man sich länger erinnern konnte, als eine Nacht Schlaf und der Tag, an dem man seinen Wochenlohn ausbezahlt bekam. Es war eine ganz neue Zeitrechnung. Es war eine Epoche in seinem Dasein. »Als ich in der Stärkerei zu arbeiten begann«, oder »nachdem«, oder »bevor ich in der Stärkerei zu arbeiten begann« waren Sätze, die er häufig anwendete.

      Seinen sechzehnten Geburtstag feierte er damit, daß er in die Webstube versetzt wurde, wo man ihn an einen eigenen Webstuhl setzte. Hier hatte er wieder einen Ansporn zur Arbeit, denn es war Akkordarbeit. Und er zeichnete sich aus, weil der Lehm, aus dem er gemacht war, von den Fabriken zur vollkommenen Maschine umgebildet worden war. Und als drei Monate vergangen waren, hatte er zwei Webstühle zu besorgen und später drei und vier.

      Er war noch nicht zwei Jahre in der Webstube, als er schon mehr Ellen produzierte als jeder andere Weber und mehr als doppelt so viel wie die weniger tüchtigen. Zu Hause begannen sich die Verhältnisse auch zu bessern, da er ungefähr den Wochenlohn eines Erwachsenen verdiente. Nicht, daß sein größerer Verdienst ihm je mehr als das Notwendigste verschafft hätte. Die Kinder wuchsen heran. Sie aßen mehr. Sie gingen zur Schule, und Schulbücher kosten Geld. Und wie dem nun war oder nicht war, je mehr er arbeitete, desto höher stiegen die Preise von allem. Selbst die Miete stieg, obwohl das Haus immer mehr verfiel.

      Er war jetzt ausgewachsen, aber er sah magerer aus als je. Er wurde auch nervöser, und seine Reizbarkeit und Verdrießlichkeit nahmen mit seiner Nervosität zu. Aus langer, bitterer Erfahrung hatten die Kinder gelernt, sich in hinreichendem Abstand von ihm zu halten. Seine Mutter achtete ihn, weil er Geld verdiente, aber ihre Achtung vor ihm war gleichsam mit Furcht gemischt.

      Das Leben enthielt keine Freuden für ihn. Er bemerkte nicht, daß die Tage vergingen. Die Nächte verschlief er in zitternder Bewusstlosigkeit. Die übrige Zeit arbeitete er, und in seinem Bewusstsein gab es nichts als Maschinen. Darüber hinaus war sein Hirn ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte kein Ideal und nur eine einzige Illusion – nämlich, daß er ausgezeichneten Kaffee bekam. Er war ein Arbeitstier. Er hatte keinerlei Seelenleben, und doch erfolgte in den geheimsten Winkeln seines Hirns ein Abwägen und Sichten jeder einzigen Arbeitsstunde, jeder Bewegung seiner Hände, jeden Rucks in seinen Muskeln, womit der Grund zu der Tat gelegt wurde, die dereinst ihn selbst und seine ganze Kleinwelt verblüffen sollte. Es war eines Abends im Spätfrühling, als er heimkam und sich ungewöhnlich müde fühlte. Es lag etwas in der Luft, als er sich zu Tisch setzte, aber er beachtete es nicht. Er saß finster und schweigend da und aß ganz mechanisch, was ihm vorgesetzt wurde. Die Kinder machten »hm« und »ah« und schmatzten vor Wohlbehagen. Aber er hörte es nicht.

      »Weißt du, was du da ißt?« fragte seine Mutter schließlich mit dem Mut der Verzweiflung.

      Er sah verständnislos auf den Teller vor sich und dann ebenso verständnislos auf sie.

      »Götterspeise«, erklärte sie triumphierend.

      »Oh«, sagte er.

      »Götterspeise!« riefen alle Kinder im Chor.

      »Oh«, sagte er. Und nachdem er ein paar Löffel voll gegessen hatte, fügte er hinzu: »Ich glaube, ich habe heute Abend keinen Hunger.«

      Er legte den Löffel nieder, schob seinen Stuhl zurück und erhob sich müde vom Tisch.

      »Und ich denke, jetzt gehe ich zu Bett.«

      Er schleppte die Füße noch mehr als gewöhnlich nach, als er durch die Küche ging. Sich zu entkleiden, bedeutete eine Titanenarbeit, eine ungeheure Abrackerei für ihn, und er weinte vor Schrecken, als er, noch mit einem Schuh, ins Bett kroch. Er hatte das Gefühl, als erhöbe und schwölle etwas in seinem Kopf und machte sein Hirn dickflüssig. Seine mageren Finger fühlten sich ebenso dick an wie sein Handgelenk, und in den Fingerspitzen hatte er ein Gefühl, als gingen sie ihn nichts an, und als wären sie ebenso unbestimmt und dickflüssig wie sein Hirn. Seine Lenden schmerzten unerträglich. Jeder Knochen in seinem Körper schmerzte. Und in seinem Kopfe begann es zu kreischen und zu klopfen, zu knarren und zu poltern wie von Millionen Webstühlen. Der ganze Raum war wie von fliegenden Weberschiffchen erfüllt. Sie schossen wirr zwischen den Sternen ein und aus. Er hatte selbst tausend Webstühle zu besorgen, und sie liefen immer schneller und schneller, und sein Hirn wickelte sich, schneller und schneller, ab und wurde zu dem Faden, der die tausend fliegenden Schiffchen tötete.

      Am nächsten Morgen ging er nicht zur Arbeit. Er war zu beschäftigt mit dem ewigen Gesurr der tausend Webstühle in seinem Kopfe. Seine Mutter ging zur Arbeit. Vorher aber schickte sie nach dem Arzt. Es sei ein ernster Anfall von Grippe, meinte der. Jenny machte die Krankenschwester nach den Anweisungen des Arztes.

      Es war ein sehr ernster Anfall, und es dauerte eine ganze Woche, bis Johnny sich ankleidete und kraftlos durch die Zimmer wankte. Es würde noch eine Woche dauern, sagte der Arzt, ehe er gesund genug sei, zu seiner Arbeit zurückzukehren. Der Vorarbeiter der Webstube besuchte ihn am Sonntag, dem ersten Tage, als er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war. Der beste Weber im ganzen Raum, sagte der Vorarbeiter zu seiner Mutter. Seine Stellung würde ihm freigehalten werden; er könnte am Montag in acht Tagen wieder anfangen.

      »Warum bedankst du dich nicht, Johnny?« fragte seine Mutter bekümmert.

      »Er ist so krank gewesen, daß er noch nicht wieder recht zu sich gekommen ist«, entschuldigte sie sich bei dem Gast.

      Johnny saß mit hochgezogenen Schultern da und sah unabgewandt zu Boden. Noch lange, nachdem der Vorarbeiter gegangen war, saß er in derselben Stellung da. Es war ein warmer Tag und am Nachmittag saß er draußen auf der Treppe. Ab und zu bewegte er die Lippen. Es war, als sei er ganz in endlose Berechnungen verloren.

      Am nächsten Tage setzte er sich, sobald es warm wurde, wieder auf die Treppe. Diesmal hatte er einen Bleistift und Papier mitgenommen, um weiter an seinen Berechnungen zu arbeiten, und er rechnete mühselig mit verblüffend hohen Zahlen.

      »Was kommt nach Millionen?« fragte er mittags, als Will aus der Schule kam. »Und wie rechnet man damit?«

      Am selben Nachmittag wurde er mit seiner Rechnung fertig. Jeden Nachmittag setzte er sich wieder auf die Treppe, aber ohne Papier und Bleistift. Er beschäftigte sich eifrig mit dem einsamen Baum, der auf der anderen Seite der Straße wuchs. Er studierte ihn jedesmal stundenlang