Nostromo. Joseph Conrad

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Название Nostromo
Автор произведения Joseph Conrad
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750247864



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hatte, waren seine ersten Worte: »Es ist ein Glück, daß wir uns in einer Hafenstadt werden niederlassen können. Du kennst den Namen, es ist Sulaco. Ich bin so froh, daß der arme Papa das Haus erworben hat. Er hat dort vor Jahren ein großes Haus gekauft, einfach nur, damit es immer eine Casa Gould in der Hauptstadt des Landesteiles geben sollte, der früher einmal die Westliche Provinz hieß. Ich habe als kleiner Junge einmal mit meiner lieben Mutter ein ganzes Jahr dort gelebt, während der arme Papa eine Geschäftsreise durch die Vereinigten Staaten machte. Du sollst die neue Herrin der Casa Gould sein.«

      Und später, in der unbewohnten Ecke des Palazzo über den Weinbergen, den Marmorbrüchen, den Pinien und Oliven von Lucca, sagte er noch:

      »Der Name Gould war in Sulaco immer hoch geachtet. Mein Onkel Harry war eine Zeitlang Oberhaupt des Staates und hat unter den ersten Familien einen großen Namen hinterlassen: damit meine ich die reinen Kreolenfamilien, die an den kümmerlichen Regierungspossen keinen Anteil nehmen. Onkel Harry war kein Abenteurer. In Costaguana sind wir Goulds keine Abenteurer. Er stammte aus dem Lande und liebte es, in seinen Anschauungen aber blieb er im Grunde doch Engländer. Er machte sich den politischen Wahlspruch der Zeit zu eigen. Es war Föderation. Aber er war kein Politiker. Er stand einfach für öffentliche Ordnung ein, aus reiner Liebe zu vernünftiger Freiheit und aus Haß gegen Unterdrückung. Er war kein Flunkerer. Er ging auf seine eigene Weise an die Arbeit, weil die ihm die rechte schien, genau so, wie ich jetzt das Gefühl habe, daß ich mich an diese Mine machen muß.«

      In solchen Worten sprach er zu ihr, weil sein Gedächtnis erfüllt war von dem Land seiner Kindheit, sein Herz von dem Leben mit diesem Mädchen, sein Sinn von der San-Tomé-Konzession. Er fügte hinzu, er würde sie für einige Tage verlassen müssen, um einen Amerikaner ausfindig zu machen, einen Mann aus San Franzisko, der sich noch irgendwo in Europa aufhielt. Er hatte ihn einige Monate zuvor in einer althistorischen deutschen Stadt in einem Bergwerksbezirk kennengelernt. Der Amerikaner hatte seine Damen mit sich, schien sich aber einsam zu fühlen, während sie den ganzen langen Tag die alten Torwege und die Ecktürmchen der mittelalterlichen Häuser abzeichneten. Charles Gould fand mit ihm einen engen Berührungspunkt im Bergbau. Der andere Mann war an verschiedenen Bergwerken beteiligt, wußte etwas von Costaguana und hatte auch den Namen Gould schon gehört. Sie hatten sich mit einer Vertrautheit unterhalten, die durch den Altersunterschied zwischen ihnen ermöglicht war. Nun wollte Charles diesen geschäftstüchtigen und dabei umgänglichen Kapitalisten auffinden. Das Vermögen seines Vaters in Costaguana, das er für beträchtlich gehalten hatte, schien infolge der vielfachen Revolutionsbrandschatzungen dahingeschmolzen zu sein. Abgesehen von einigen zehntausend Pfund, die in England hinterlegt waren, schien nichts übriggeblieben als das Haus in Sulaco, ein nicht sehr klar umrissenes Ausbeutungsrecht für Wälder in einem wilden, abgelegenen Innenbezirk und die San-Tomé-Konzession, die seinem armen Vater bis zum Rand des Grabes treugeblieben war.

      All dies erklärte er dem Mädchen. Es war spät, als sie sich trennten. Nie zuvor hatte sie sich ihm so bezaubernd gezeigt. All die schnelle Bereitschaft der Jugend für ein fremdartiges Leben, für Weite, für eine Zukunft mit einem Beigeschmack von Kampf und Abenteuer – ein unbestimmter Wunsch nach Aufbau und Eroberung –, all dies hatte sie mit tiefer Erregung erfüllt, die sie dem Erwecker mit hemmungsloser Zärtlichkeit lohnte.

      Er verließ sie, um den Hügel hinabzugehen, und sobald er sich allein sah, wurde er nüchtern. Der unwiderrufliche Wechsel, den ein Tod in den alltäglichen Ablauf unserer Gedanken bringt, macht sich in einer unbestimmten und doch brennenden Betrübnis fühlbar. Es schmerzte Charles Gould, daß er nie mehr, durch keine Willensanstrengung, imstande sein würde, an seinen armen Vater so zu denken, wie er zu dessen Lebzeiten an ihn gedacht hatte. Nicht länger gehorchte das beseelte Bild dem Ruf des Sohnes. Diese Erwägung, die sein eigenes Daseinsgefühl eng berührte, erfüllte ihn mit einem schmerzlichen und verbissenen Tatendrang. Hierin trog ihn sein Instinkt nicht. In der Tat liegt Trost. Sie ist dem Nachdenken feind und schönen Träumen günstig. Nur in der Vollbringung unserer Taten vermögen wir das Gefühl zu finden, daß wir das Schicksal meistern. Für Charles Gould bildete die Mine offensichtlich das einzige Betätigungsfeld. Es konnte mitunter ein Gebot sein, auf die rechte Weise den feierlichen Wünschen der Toten nicht zu gehorchen. Charles beschloß in seinem Ungehorsam (zur Buße) so gründlich wie nur möglich zu sein. Die Mine hatte in der törichtesten Weise einen seelischen Zusammenbruch verschuldet; nun sollte ihr Betrieb zum ernsthaften, sittlichen Erfolg werden. Das war er dem Andenken des toten Mannes schuldig. Dies also waren die – genau gesagt – Gemütsregungen von Charles Gould. Seine Gedanken waren schon bei der Möglichkeit, in San Franzisko oder sonstwo ein starkes Kapital aufzunehmen; und gelegentlich kam ihm auch die allgemeine Überlegung, daß der Rat der Hingeschiedenen ein schlechter Führer sein müsse. Keiner unter ihnen konnte vorher wissen, welche ungeheuren Veränderungen der Tod eines einzelnen Menschen im ganzen Weltbild hervorzurufen vermochte.

      Den letzten Abschnitt in der Geschichte der Mine kannte Frau Gould aus persönlicher Erfahrung. Es war im wesentlichen auch die Geschichte ihrer Ehe. Der Mantel der vererbten Machtstellung der Goulds in Sulaco hatte sich auf ihre schmächtigen Schultern gesenkt, doch litt sie es nicht, daß die Falten und Fältchen des fremdartigen Gewandes ihre eigene Lebhaftigkeit unterdrückten, die nicht aus bloßer Munterkeit, sondern aus scharfem Verstand herrührte. Dabei soll niemand glauben, daß Frau Gould etwa sehr männlich veranlagt gewesen wäre. Eine Frau von männlicher Veranlagung ist durchaus kein überlegenes Wesen; sie ist nur eine Spielart, in der sich die Unterschiede verwischt haben – merkwürdig durch ihre Unfruchtbarkeit und im übrigen ohne Bedeutung. Da Doňa Emilias Verstand durchaus weiblich war, so führte er sie dazu, Sulaco zu erobern, einfach indem er ihr den rechten Weg für ihre Selbstlosigkeit und Anteilnahme wies. Sie konnte entzückend eine Unterhaltung führen, war aber nicht gesprächig. Da die Herzensweisheit mit der Aufstellung oder Widerlegung von Theorien so wenig zu tun hat wie mit der Verteidigung von Vorurteilen, so kann sie auch auf viel Worte verzichten. Die Worte, die sie ausspricht, haben den Wert von Werken der Rechtlichkeit, Duldsamkeit und Nächstenliebe. Die wahre Zärtlichkeit einer Frau äußert sich wie die wahre Männlichkeit eines Mannes in einer Art von Eroberung. Die Damen von Sulaco beteten Frau Gould an. »Sie sehen in mir immer noch etwas wie ein Ungeheuer«, hatte Frau Gould spaßhaft zu einem der drei Herren aus San Franzisko gesagt, die sie etwa ein Jahr nach der Heirat in ihrem Hause in Sulaco aufzunehmen gehabt hatte.

      Es waren ihre ersten auswärtigen Besucher gewesen, und sie waren gekommen, um die San Tomé-Mine zu besichtigen. Frau Gould scherzte, wie es ihnen schien, sehr anziehend; und Charles Gould wußte nicht nur genau, was er wollte, sondern hatte sich außerdem auch als unermüdlicher Arbeiter erwiesen. Die Tatsache schuf bei den Herren die beste Stimmung gegenüber Charles Goulds Gattin. Eine unverkennbare Begeisterung, durch einen leise spöttischen Unterton gewürzt, ließ ihre Worte über die Mine den Besuchern geradezu bezaubernd erscheinen und brachte sie zu ernstem, nachsichtigem Lächeln, in dem ein gut Teil Verehrung lag. Hätten sie geahnt, wie sehr sie von einem idealistischen Zielbewußtsein erfüllt war, dann hätte sie vielleicht die Geistesverfassung der kleinen Dame mit der gleichen Bewunderung erfüllt wie ihre körperliche Unermüdlidikeit die spanisch-amerikanischen Damen. Sie wäre ihnen – nach ihren eigenen Worten – »als etwas wie ein Ungeheuer« erschienen. Doch die Goulds waren im wesentlichen zurückhaltende Menschen, und die Gäste nahmen Abschied, ohne ihnen im entferntesten andere Absichten zuzutrauen als die richtige Nutzung einer Silbermine. Frau Gould stellte ihren eigenen Wagen mit den zwei weißen Maultieren zur Verfügung, um die Gäste zum Hafen hinunterzufahren, von wo der Zerberus sie auf den Olymp der Plutokraten bringen sollte. Kapitän Mitchell hatte den Augenblick des Abschieds benützt, um Frau Gould vertraulich die Bemerkung zuzuflüstern: »Dies bezeichnet eine Epoche.«

      Frau Gould liebte den Innenhof ihres spanischen Hauses. Aus einer Mauernische über der breiten Steintreppe blickte still eine Madonna in blauen Gewändern, das gekrönte Kind auf dem Arm. Gedämpfte Stimmen drangen in den frühen Morgenstunden vom Brunnenrand inmitten des Vierecks herauf, zugleich mit dem Stampfen der Pferde und Maultiere, die paarweise an die Zisterne zur Tränke geführt wurden. Ein Dickicht schlanker Bambusstämme neigte die schmalen Messerklingen seiner Blätter über die rechteckige Wasserfläche, und der fette Kutscher kauerte träge auf der Brüstung, die Halfterenden lässig in der Hand. Bloßfüßige Diener gingen ab und zu; aus dunklen, niederen Türen