Название | Privatsache |
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Автор произведения | Thomas Hölscher |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783750219007 |
Vor allem die Frau des Mörders hatte sich über den Zeitungsartikel entsetzt gezeigt. Kein Wort davon sei wahr, und obschon der Schreiberling die Unhaltbarkeit seiner Behauptungen schließlich hatte relativieren müssen, hatte die Frau Strafanzeige gestellt.
Missmutig kramte Milewski in irgendwelchen Papieren, die er dann auf den Schreibtisch seines Kollegen warf. Schließlich kam Hebemann morgen zurück, und der faule Sack sollte auch noch etwas zu tun haben.
Ganz plötzlich glaubte Milewski den Grund für seine augenblickliche Wut genau zu kennen: bei Wörtern wie homosexuell und schwul bogen sich ihm die Fußnägel. Ein derartiger Schweinekram erinnerte ihn an seinen Ex-Kollegen Börner, und es gab eigentlich niemanden, von dem er sich so sehr wünschte, ihn nie wieder zu sehen, wie eben diesen verlotterten Typen. Ekelhaft!, dachte er und schüttelte sich.
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.
"Herein, wenn's kein Türke ist!", rief Milewski gereizt, und dann erschrak er selber über diesen Satz, der ihm da politisch völlig unkorrekt herausgerutscht war.
Ein junger Mann trat in das Büro und sah Milewski einigermaßen verunsichert an. Er stellte sich als Praktikant von der Polizeischule in Bochum vor, und Milewski schickte ihn ziemlich unfreundlich ins nächste Zimmer. Er konnte sich doch nicht um jeden Firlefanz kümmern!
Dann fiel ihm die Sache mit dem Türken wieder ein. Früher hatten sie so etwas oft gesagt und darüber gelacht. Aber als stellvertretender Leiter des 1.K., das musste er nun zugeben, konnte er sich so etwas natürlich nicht mehr erlauben. Denken schon, aber nicht sagen. Das war politisch nämlich nicht korrekt.
Anscheinend hatte er sich an seine neue Rolle immer noch nicht so ganz gewöhnt.
6
Er erwachte erst gegen Mittag und hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Dennoch stand er auf und zog die Jalousien vor den Fenstern hoch. Was sollten die Nachbarn schließlich denken!
Nachdem er das Kaffeewasser aufgesetzt hatte, sah er nach der Post. Sein Briefkasten quoll über, Reklame, Rechnungen und ein Brief vom Arbeitsamt. Er überflog das Schreiben. Die Förderdauer war beendet, er sollte sich zu einem Gespräch einfinden, eine Umschulungsmaßnahme wurde in Aussicht gestellt. Wütend warf er das Papier auf den Stapel der übrigen Briefe. Umschulung! Wer bestimmte hier eigentlich, welche Arbeit sinnvoll war und welche nicht? Wofür man bezahlt wurde und wofür nicht? Natürlich würde er nicht zu diesem Gespräch erscheinen, die sollten ihn doch mal kreuzweise.
Nach dem Frühstück musste er raus. Da stand zwar noch der Koffer voll dreckiger Wäsche, aber er musste nun einfach raus, und zwar sofort. Sonst würde er die Wohnung anstecken.
Es war bereits kurz nach fünf, als er wieder zurückkehrte, ohne noch sagen zu können, was er eigentlich den ganzen Tag gemacht hatte. Sofort öffnete er den Koffer, sortierte die Wäsche, und dann glaubte er, die so entstandene Unordnung in seiner Wohnung keine Sekunde ertragen zu können. Als die Waschmaschine schon lief, ärgerte es ihn, dass er nun mindestens eine Stunde lang das Haus nicht verlassen konnte. Er schaltete den Fernseher ein, sprang von einem Programm ins nächste, nur um bestätigt zu bekommen, dass ihn das alles ohnehin nicht interessierte. Der Bierkasten fiel ihm wieder ein, der musste schließlich noch halb voll sein. Wegen seiner nächtlichen Sauferei war ihm zwar noch übel, aber nach den ersten Flaschen würde es schon wieder gehen. Natürlich war das alles beschissen, aber was sollte man machen?
Nach der zweiten Flasche begann die Maschine mit dem Spülgang, nach der vierten wurde die Wäsche geschleudert, und schließlich hatte Börner die Waschmaschine vergessen, sah sich zum zweiten- oder drittenmal die Nachrichten des Tages an und stierte auf den Bildschirm, als könne man dort etwas Wichtiges verpassen. Dabei gab es auch für das Fernsehen anscheinend nur noch die DDR, die bevorstehende deutsche Vereinigung, und der Rest der Welt fand offensichtlich gar nicht mehr statt.
Nach dem Wetterbericht der 20 Uhr-Nachrichten ging er aus dem Haus. Noch immer schien die Sonne, und es war angenehm warm. Er freute sich auf den Sommer, die langen Abende, an denen man sich irgendwo ins Freie setzen und beobachten konnte. Einfach nur beobachten und so tun, als gäbe es die eigene Person überhaupt nicht. Wahrscheinlich war das die einzige Möglichkeit, das Leben zu ertragen.
An der Grenzstraße bog er nach rechts, überquerte die Kurt-Schumacher-Straße und hatte schließlich den Kussweg erreicht. Er zögerte einen Augenblick, dann betrat er den Weg und setzte sich auf eine der Bänke, von wo aus er die gesamte Rückfront des Altenheims überblicken konnte.
Es herrschte noch reger Betrieb. Leute führten ihre Hunde aus, andere standen zusammen und plauderten. Auf der Nachbarbank saßen zwei heruntergekommen aussehende junge Männer, die billigstes Dosenbier in sich hineinschütteten und die leeren Aluminiumdosen kurzerhand hinter sich ins Gebüsch warfen. Börner rutschte ein Stück von den beiden weg; die suchten doch nur Streit, und sich in der Öffentlichkeit zu besaufen, war allein schon ekelhaft.
Auf einigen der Balkons des Wohnheims saßen alte Menschen, sahen von dort auf das Wirrwarr der angrenzenden Schrebergärten, unterhielten sich oder genossen einfach die Strahlen der mittlerweile tief über den Häusern stehenden Sonne. Auch auf dem obersten Balkon des Pflegeheims saßen ein paar alte Menschen, zumeist in Rollstühlen. In ihrer Mitte stand ein junger Mann in weißer Pflegekleidung, den Börner augenblicklich mehr als nur attraktiv fand.
Typisch deutsches Idyll, dachte er und grinste. Es gab immer mehr alte Leute, alles starb, weil die Leute keine Kinder mehr haben wollten oder konnten. Das Geld war einfach wichtiger. Bald musste die Welt hier aus lauter Opas und Omas bestehen. Eine schreckliche Vorstellung. Das Leben würde sich nicht mehr lohnen.
Er sah auf den jungen Mann, und plötzlich war es eine beklemmende Vorstellung, dass so viele solcher Jungen wegen irgendwelcher Bausparverträge, unbedingt noch anzuschaffender Einbauküchen, Wohnzimmerschränke und Renommierkarossen in irgendwelchen dubiosen Kliniken bereits in den Mülleimer geworfen worden waren.
Er tippte auf einen Zivildienstleistenden. Und darauf, dass dieser Junge schwul war. Schließlich waren doch alle Pfleger schwul. Weil sie wegen ihres Schwulseins ein schlechtes Gewissen hatten und dem Helfersyndrom auf den Leim gingen. Börner grinste über seinen dämlichen Einfall. Zumindest ein Schwuler passte auf keinen Fall in dieses Weltbild: er selber. Er mochte ja an allem möglichen leiden, aber daran ...
Er ließ seine Blicke wieder über die Balkons des Wohnheims schweifen, und plötzlich sah er, dass eine alte Dame ihm zuwinkte und offensichtlich etwas sagen wollte. Er stand auf und ging weiter. Er wollte jetzt nicht gestört werden. Weshalb war er überhaupt hierher gekommen?
Die ganze vergangene Nacht hatte ihn der Zeitungsartikel über den Mord in diesem Altenheim beschäftigt, und mit jeder Flasche Bier war alles noch interessanter, unbegreiflicher, mysteriöser geworden. Dass in der regionalen Presse nur ein paar belanglose Fakten zu diesem Fall erwähnt worden waren, hatte er schließlich auf die Provinzialität dieser Zeitung zurückführen wollen.
Jetzt sah die Sache natürlich ganz anderes aus. Wahrscheinlich hatte die WAZ recht, der Mord war natürlich ungewöhnlich, aber mehr auch nicht. Und in dem Revolverblättchen hatte man einfach noch etwas hinzuerfunden, damit die Sache reißerischer wurde und die Leute sie überhaupt zur Kenntnis nahmen.
Bei ihm hatte diese Masche ja anscheinend auch geklappt.
Er hatte die Grillostraße erreicht und zögerte einen Augenblick. Noch immer stand die Sonne dicht über den Dächern