Panoptikum. Йозеф Рот

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Название Panoptikum
Автор произведения Йозеф Рот
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750207363



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deutlich agnosziert werden kann, ebenso fällt es dem angestrengten Lauscher schwer, eine Äußerung zu werten, die man ihm zugetragen hat; insbesondere wenn sie ein Geheimnis ist, wie in den meisten Fällen.

      Das Lokal der Berliner Künstler und Literaten, in dem man um Mitternacht alle finden kann, die noch am Abend versichert hatten, sie gingen prinzipiell nicht mehr hin, ja, sie wären seit Jahr und Tag nicht dort gewesen, beherbergt eine Art arrivierter Boheme, deren Kreditfähigkeit bereits außer Zweifel ist. Keiner von diesen Gästen hätte es nötig, seine Schlafstätte später aufzusuchen, als es ihm sein bürgerlicher Instinkt befiehlt. Auch beschließt jeder jede Nacht, diesen Ort in der nächsten zu meiden. Aber die Angst, seine Freunde, die ihn erwarten, um mit ihm Gutes zu reden, könnten von ihm Schlechtes reden, wenn er nicht käme, veranlaßt ihn, sich tapfer dort zu zeigen, wo es vielleicht mutig wäre, abwesend zu sein. Er kommt, um die Eintracht nicht zu stören, die, aus Angst und Mißtrauen gebildet, in den Nischen nistet, und um sich und seinen Tisch vor jener üblen Nachrede zu bewahren, die schon am nachbarlichen gemunkelt wird. Hätte einer die Fähigkeit, an allen Tischen gleichzeitig zu sitzen, man würde an allen nur Gutes von ihm reden; und das Wunder, das er selbst vollbrächte, wäre noch gering im Vergleich zu jenem, das die anderen sich abzuringen hätten. Immerhin erreichen die meisten wenigstens die Grenze des Wunderbaren, indem sie sehr schnell einen Tisch nach dem andern kontrollieren. Aber immer noch bleiben sie hinter der Schnelligkeit zurück, mit der die Sitzenden das Thema zu wechseln verstehen – – und gelegentlich auch die Anschauung.

      Es gibt freilich auch Sitzende, denen ihr Rang gerade noch erlaubt aufzustehen, nicht aber mehr, Besuche abzustatten. Auch sie sind nicht gefeit vor der Angst, irgend jemand könnte irgend etwas von ihnen erzählen. Aber sie tragen die Last, nicht wohlgelitten zu sein, wie einen Beweis für ihre Bedeutung – und das Mißtrauen, das die noch nicht so weit Arrivierten in Zuvorkommenheit packen, verwandeln die Bedeutenden in Verachtung und in Geringschätzung. Alle, die man im Augenblick nicht brauchen kann, sind für den, der sie erst nach einem Jahr brauchen wird, heute nur Luft, die er zwar atmet, aber nicht sieht. Gemach, gemach! Sie werden sich bald aus ihrer durchsichtigen Anonymität zu jener pseudonymen Körperlichkeit entwickelt haben, ohne die man unmöglich einen Lehnstuhl vor einem Bürotisch einnehmen kann. Sie, deren Sehnsucht es heute noch ist, Schatten von Körpern zu sein, werden einmal sogar eigene Schatten werfen, Protektionsschatten auf Anonyme, Durchsichtige und Luftige. Sie werden selbst die Filmreferate zu verteilen haben, die heute nur einige Male im Jahr wie göttliche Gnaden auf sie fallen, sie werden selbst in Konferenzen begriffen sein, wegen deren sie heute noch fortgeschickt werden, und sie werden bei Premieren neben den Kritikern sitzen, selber Kritiker, aber von einer »neuen Richtung«, mit einer neuen Terminologie, dank der sie vor Urteilen bewahrt und zu Vorurteilen angeregt werden. Deshalb empfiehlt es sich für Vorsichtige, auch nicht die Geringsten unter den Anwesenden zu übersehen, ja selbst die Unsichtbaren mit einer gewissen Achtung ins Auge zu fassen und die Schatten so zu begrüßen, als wären sie beredt und könnten erwidern. In den langen Jahren, in denen ich den deutschen Literaturbetrieb beobachten darf, habe ich schon gesehen, wie Nullen sich an Ziffern hängten und zusammen Zahlen ergaben, mit denen man natürlich rechnen mußte. Ja einige, die in der Gesellschaft bei Schwannecke die unbedeutende Funktion von ornamentalen vertikalen Linien auszuüben schienen, verwandelten sich in Striche, durch ahnungslose Rechnungen gemacht. Und manche Analphabeten, die, während sie in den Vorzimmern der Redaktionen warteten, die Zeitungen buchstabierten, begannen auf einmal, Bücher zu besprechen.

      Auch Feindschaften unter den Gästen von Schwannecke können überraschende Folgen zeitigen, und nur ein Ahnungsloser ist imstande, an eine Feindschaft zu glauben und aus ihr etwa Nutzen für sich selbst ziehen zu wollen. Selbst nach einer unmißverständlichen Erklärung der sogenannten Tintenfehde – die zusammen mit der Tintenrache die gefährlichste Sitte der Schwannecke-Stämme bildet – kann niemand voraussehen, wie schnell ein Feuilletonist imstande ist, eine uralte, seit Wochen und Tagen stammende Feindschaft gegen einen Autor in einer langen, lobenden Kritik zu begraben, ohne daß jemand zu sagen wüßte warum, wieso und wozu. Ganz besonders unterrichtete Zwischenträger wissen dann manchmal zu berichten, daß gemeinsame Interessen für einen neuen Typ eleganter Sportautomobile die Gegner einander nahegebracht hätten. Denn seit einiger Zeit hat die Verpflichtung zum »Tempo«, in dem sich Um-, Neu- und Wiederaufbauten auf dem Kurfürstendamm und auch sonst im Lande vollziehen, sogar die Diener am Geist sowie dessen Bediente erfaßt, und alle sind imstande, hinter eine Fahrt mit 80-Kilometer-Geschwindigkeit eine Weltanschauung zurückzustellen. Vor dem Erlebnis der meßbaren Geschwindigkeit, mit der sie eine Straße dahinrasen, bleibt auch die Sensation jener unmeßbaren zurück, mit der sie ein Bekenntnis vergessen. Und seitdem in unserer zeitgenössischen Literatur ein Monokel ein Auge ersetzen kann, ist selbst in den Blicken einzelner Gegner Zu- oder Abneigung nicht mehr zu erkennen. Gedruckte Angriffe und Beleidigungen in unseren literarischen Blättern lese ich deshalb schon lange so, als wären es bereits Widerrufe und Entschuldigungen.

      Nicht ohne Grund ärgere ich mich über die Innenarchitektur Schwanneckes, den langen Raum, den Korridor, an dessen beiden Seiten viereckige Nischen angenäht sind, so daß die Gästegruppen voneinander getrennt sind, als gehörten sie nicht zusammen. Mich kränkt die Enge dieses Raumes und der Umstand, daß er nicht alle faßt, die hineingehören. Ich ergebe mich gerne der Vision, die mich manchmal aufsucht, wenn ich in einer der Nischen am frühen Morgen sitze, der hier ein Anhang an die Nacht ist. Ich sehe einen kolossalen, übersichtlichen Schwanneckebau mit einer Kuppel, er faßt die ganze Literatur, die Öffentlichkeit und ihre Kritik, die Filmproduktion und ihre Rezensenten, die Bühne und ihre Referenten und sogar die Arbeitszimmer der einzelnen, die dem Snobismus der Einsamkeit huldigen, die ihnen nicht zusteht – auseinandergefallene und aufgelöste Arbeitszimmer, in denen nur die Schreibmaschinen die tönende Leere der Gedanken unterbrechen. Ich sehe ein unermeßliches, gewissermaßen übersinnliches Schwannecke, ein Pantheon der lebenden, wenn auch nicht lebendigen künstlerischen Öffentlichkeit, in der auch die Autogaragen der kühnen Schnelligkeitsdichter Raum fänden und eine Autorennbahn für die Besinger der Gegenwart und ein Flugplatz für die Feuilleton-Homere der Ozeanflieger.

      Trübsal einer Straßenbahn im Ruhrgebiet

      Es regnet dünn und dauerhaft. Um zwölf Uhr fünfzehn geht die Straßenbahn ab. Um ein Uhr fünfundvierzig wird sie in der nächsten Stadt sein. Die Haltestelle ist vor einer Schenke. Ich trinke ein Kirschwasser und sehe durch die Netzornamente der Vorhänge auf die Straße. In so einem Regen werden die Geräusche unhörbar, genau wie im Schnee. Ja, hätten diese Vorhänge keine Ornamente, hätte diese gute Schenke überhaupt keine Vorhänge – wozu Vorhänge? –, dann könnte ich wohl die Straßenbahn kommen sehen. Ich zittere, sie könnte mir davonfahren, und gleichzeitig wünsche ich, sie täte es. Ich würde dann vielleicht mit der schnelleren, solideren, bequemeren Eisenbahn fahren. Nun aber stehe ich im Bann einer freigewählten Qual. Je mehr Zeit, Geduld, Kältegefühl, Kirschwasser und Abscheu ich in dieses Unternehmen investiere, desto schwerer fällt es mir, darauf zu verzichten. Die Zeit und der Regen rinnen.

      Pünktlich, sie war gar nicht dazu verpflichtet, kommt die Straßenbahn. Ihr Trittbrett ist hoch und naß, auch der Fußboden im Innern des Wagens ist feucht, ein alter Mann raucht Pfeife, eine Frau sitzt, einen verhüllten Korb auf dem Schoß. Schulmädchen steigen ein, mit häßlichen, harten Schultornistern, auf die der Regen getrommelt hat; Ertüchtigungsinstrumente mit baumelndem Schwamm. Zwei Arbeiter lehnen auf dem Hinterperron neben dem Schaffner. Eine ländliche Magd ist da, sie trägt eine goldgefaßte Brille und ist barfuß. Sie mahnt mich an einen Pflug, der von einer Lokomotive gezogen wird. Niemand spricht. Alle machen sich auf die Qual einer langen Fahrt gefaßt. Eine solche Sammlung bedarf der vollkommenen Schweigsamkeit. Die harten Sitze aus glänzend poliertem Holz sind nicht nur kurz, sondern auch abschüssig. Hier sitzen heißt: fortwährend und fruchtlos hinaufrücken.

      Wir fahren durch eine lange Straße, an schwarzen Häusern und Häuserlücken vorbei, an Brettern, an Zäunen, an einem Gelände, das keinen Sinn hat, nicht die Erwartung, jemals einen Garten, einen Acker oder ein Haus zu tragen. Es ist die Leiche eines Geländes. Die Stadt hört nicht auf. Wenn sie aber einmal aufhört, beginnt sofort die andere. Die Städte reichen einander die Straßen. Jedesmal halten wir vor braunen Wartehäuschen aus geteertem Holz, sie sehen aus