Название | Handover |
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Автор произведения | Alexander Nadler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783741848018 |
Sonntag, 27. April 1997, 20:38 Uhr
„Entschuldigen Sie bitte, dass ich mich verspätet habe, aber ich musste noch einen Artikel für die morgige Ausgabe fertig schreiben, und dies hat etwas länger gedauert als ursprünglich angenommen. Ich hoffe, Sie warten noch nicht allzu lange.“
Eva-Marie Schönes Auftauchen setzt Claudes ungeduldigem Warten endlich ein Ende. Fast hat er schon nicht mehr an ihr Kommen, das eigentlich für acht Uhr abgesprochen war, geglaubt, und mit jeder Minute, die der kleine Zeiger der Uhr über die besagte Stundenanzeige hinausrückte, wuchs die zermürbende Ungewissheit, schwand die Hoffnung, die Zuversicht, die er mit dem von ihr versprochenen Informationsmaterial verbindet, das für ihn, obgleich er es noch nicht zu Gesicht bekommen hat, so etwas wie einen magischen Sesam-Öffne-Dich darstellt, der ihm den Weg für seine weiteren Recherchen ebnen, ihm zumindest dabei entscheidend behilflich sein soll. Worauf er diese doch enorm hohe Zuversicht gründet, ist ihm nicht klar, und daher wunderte er sich auch nicht über die in immer kürzeren Phasen wiederkehrenden Perioden des Zweifels, in denen er sich selbst vor übertriebenen Erwartungen warnte. Davon will er Eva-Marie allerdings nichts sagen, sie nichts von seiner inneren Anspannung und Nervosität wissen und spüren lassen. „Aaah ... schönen guten Abend, schön dass Sie kommen konnten. Machen Sie sich keine Gedanken, ich bin erst vor ein paar Minuten gekommen.“ Schwer zu sagen, ob sie ihm glaubt, ihre Augen jedenfalls geben darüber keine Auskunft, ebenso wenig ihre Reaktion.
„Da bin ich ja froh, ich hatte schon Angst, Sie wären vielleicht schon gegangen.“
„Wo denken Sie hin! Darf ich Ihnen etwas zu trinken bestellen?“
„Ein Wodka-Martini wäre jetzt nicht schlecht“, akzeptiert sie seine Offerte mit gesenktem Blick, den sie auf die Mappe gerichtet hält, in der sie für einige Augenblicke herumsucht, ehe sie einen prall gefüllten Schnellhefter daraus hervorzieht, in den sie noch rasch einen Blick wirft, um sich zu versichern, den richtigen erwischt zu haben. „Hier bitte, die versprochenen Unterlagen. Ich habe gestern alles zusammengesucht. Hoffentlich hilft es Ihnen weiter.“
Beinahe gierig, wie ein Verdurstender zum rettenden Labsal greift, nimmt er ihr den dargereichten Hefter aus der Hand, vermeidet es jedoch aus Höflichkeit tunlichst, sofort mit der Lektüre zu beginnen, obwohl er seine lodernde Neugier kaum zu beherrschen imstande ist, die ihn seit dem Erwachen am Morgen in zunehmendem Maße heimgesucht hat, mit ausgelöst wohl durch den ergebnislos verlaufenen Samstagabend, der ihn kein Stückchen weitergebracht hat, ihm wiederrum einige lärmerfüllte, verräucherte Bars und schmierige Hintertürpuffs auf für ihn beschämende und erschreckende Weise zugleich deutlich vor Augen führten, auf welch primitive Art und Weise ein Gutteil der Menschheit zu befriedigen ist, wobei ihn die in vielen Fällen abstoßend wirkende Zurschaustellung weiblichen Fleisches schockierte, ja ekelte, weswegen er sich mitunter nicht des Eindrucks erwehren konnte, in einer Fleischhandlung zu sein, die mit Sonderangeboten - oder sollte man besser sagen: Restposten? - um Kundschaft buhlt. Wieder einmal musste er an die alten Römer denken, daran, auf welch einfache, ja geradezu primitive Art und Weise der Mensch zufriedenzustellen und zu begeistern ist. Erschreckend, aber wahr! Ernüchtert von all den betrüblichen und so wenig Hoffnung und Zuversicht ausstrahlenden Momenten, fiel er nach langem Hin-und-Her-Wälzen in einen ermattenden Schlaf, ohne den angehäuften Trübsinn dadurch abstreifen zu können, im Gegenteil, wie gemartert war er aufgewacht, emotional ausgelaugt, desillusioniert, mit einem einzigen kleinen Hoffnungsschimmer am fernen Horizont, nämlich eben dem Treffen mit Eva-Marie, in das er so große, möglicherweise übergroße Erwartungen setzte. „Wir werden sehen. Wann brauchen Sie es denn zurück?“
„Wenn Sie wollen, können Sie es gerne behalten. Es ist nur eine Kopie. Allerdings unter der Voraussetzung, es nicht journalistisch zu verwerten.“
„Wo denken Sie hin, das käme mir nie in den Sinn, ich weiß, welch harte Arbeit dahintersteckt“, zerstreut er mögliche Bedenken ihrerseits. „Das ist wirklich sehr großzügig, vielen herzlichen Dank. Gibt es eine Chance, dies wieder gutzumachen?“ Seine den ganzen Tag über bis jetzt anhaltende Niedergeschlagenheit ist durch die unerwartet erfahrene Generosität beinahe vollständig