Die Flucht ohne Ende. Йозеф Рот

Читать онлайн.
Название Die Flucht ohne Ende
Автор произведения Йозеф Рот
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783750206977



Скачать книгу

Gouvernement Samara ein. Einen Popen und fünf Bauern, die beschuldigt waren, Rotarmisten zu Tode gefoltert zu haben, führte man Tunda vor. Er befahl, den Popen und die fünf Bauern zusammenzubinden und zu erschießen. Ihre Leichen ließ er zur Abschreckung liegen. Er haßte noch die Toten. Er nahm persönlich Rache an ihnen. Man hielt es für selbstverständlich. Niemand von der Truppe wunderte sich darüber.

      Überraschte es sie denn nicht, daß einer töten konnte, ohne zu wollen?

      »Das hast du für mich getan«, sagte Natascha verächtlich.

      Zum erstenmal aber hatte Tunda etwas nicht für Natascha getan. Als sie ihm den Vorwurf machte, fiel es ihm ein, daß er gar nicht an sie gedacht hatte. Aber er gestand es nicht.

      »Natürlich für dich!«, log er.

      Sie freute sich und verachtete ihn.

      Alle seine Kameraden aus der Kadettenschule und vom Regiment hätte er im Namen der Revolution erschossen. Eines Tages wurde ein politischer Kommissar ihrer Truppe zugeteilt, ein Jude, der sich den Namen Nirunow beigelegt hatte, ein Schriftsteller, der flinke Zeitungen und Aufrufe herstellte, der flammende Reden hielt, bevor es zu einem Angriff kam, und ebenso plump war im Gespräch, wie er geschickt war in der Fähigkeit zu begeistern. Dieser Mann, häßlich, kurzsichtig und töricht, verliebte sich in Natascha, die ihn wie einen politisch Ebenbürtigen behandelte. Tunda wollte ebenso sprechen können wie der Kommissar, er eiferte ihm nach. Er eignete sich die technischen Ausdrücke des Politikers an, er lernte auswendig, mit der Fähigkeit eines Verliebten. Der Kommissar wurde eines Tages verwundet, man mußte ihn zurücklassen, Tunda hielt seitdem politische Reden und verfaßte Aufrufe.

      Er kämpfte in der Ukraine und an der Wolga, er zog in die Berge des Kaukasus und marschierte zurück an den Ural. Seine Truppe schmolz zusammen, er füllte sie auf, er warb Bauern an, erschoß Verräter und Überläufer und Spione, schlich sich hinter den Rücken des Feindes, ging für einige Tage in eine von Weißen besetzte Stadt, wurde verhaftet, entfloh. Er liebte die Revolution und Natascha wie ein Ritter, er kannte die Sümpfe, das Fieber, die Cholera, den Hunger, den Typhus, die Baracke ohne Arznei, den Geschmack des verschimmelten Brotes. Er stillte den Durst mit Blut, er kannte den Schmerz des Frostes und seinen Brand, das Frieren in den mitleidlosen Nächten, das Schmachten in heißen Tagen, er hörte in Kasan einmal Trotzki reden, die harte tatsächliche Sprache der Revolution, er liebte das Volk. Er erinnerte sich manchmal an seine alte Welt, wie man sich an alte Kleider erinnert, er hieß Baranowicz, er war ein Revolutionär. Er haßte die reichen Bauern, die fremden Armeen, die den Weißgardisten halfen, er haßte die Generäle, die gegen die Roten kämpften. Seine Kameraden begannen ihn zu lieben.

      5

      Er erlebte den Sieg der Revolution.

      Die Häuser in den Städten zogen rote Fahnen an und die Frauen rote Kopftücher. Wie lebendiger Mohn gingen sie herum. Über dem Elend der Bettler und der Obdachlosen, über den verwüsteten Straßen, den zerschossenen Häusern, dem Schutt auf den freien Plätzen, den Trümmern, die nach Brand rochen, den Zimmern, in denen Kranke lagen, den Friedhöfen, die unaufhörlich ihre Gräber öffneten und schlossen, den seufzenden Bürgern, die den Schnee schaufeln und die Bürgersteige reinigen mußten, lag die unbekannte Röte. In den Wäldern verhallten mit weichem Echo die letzten Schüsse. Letzter Feuerschein huschte über nächtliche Horizonte. Die schweren und schnellen Glocken der Kirchen hörten nicht auf zu läuten. Die Setz- und Druckmaschinen begannen ihre Räder zu drehen, sie waren die Mühlen der Revolution. Auf tausend Plätzen sprachen die Redner zum Volk. Die Rotgardisten marschierten in zerrissenen Kleidern und in zerrissenen Stiefeln und sangen. Die Trümmer sangen. Freudig stiegen die Neugeborenen aus den Schößen der Mütter.

      Tunda kam nach Moskau. Es wäre ihm gelungen, in jenen Tagen, in denen es Ämter regnete, einen Schreibtisch und einen Stuhl zu bekommen. Er hätte sich nur melden müssen. Er tat es nicht. Er hörte alle Reden, ging in alle Klubs, sprach mit allen Menschen, ging in alle Museen und las alle Bücher, die er bekommen konnte. Er lebte damals von Artikeln für Zeitungen und Zeitschriften. Es gab ein Klischee für Proteste und Aufrufe, ein zweites für Skizzen und Erinnerungen, ein drittes für Empörung und Anklage. Seine Gesinnung war revolutionärer als diese fertige Sprache. Er übernahm nur das Handwerkszeug. Schriftsteller erleben alles durch das Mittel der Sprache, sie haben kein Erlebnis ohne Formulierung. Tunda aber suchte nach bestehenden, oft erprobten und zuverlässigen Formulierungen, um nicht im Erlebnis unterzugehen. Er griff, wie ein Ertrinkender, mit ausgestreckten Armen nach der nächsten Klippe. Tunda, der im Jahre 1914 ausgezogen war, um nach einigen Monaten über die Ringstraße von Wien zu marschieren, zu den Klängen des Radetzkymarsches, taumelte in der zerrissenen und zufälligen Kleidung eines Rotarmisten durch die Straßen von Moskau und fand für seine Ergriffenheit keinen anderen Ausdruck als den abgewandelten Text der Internationale. Nun gibt es Augenblicke im Leben der Völker, der Klassen, der Menschen, Augenblicke, in denen die Billigkeit einer Hymne gleichgültig ist gegenüber der Feierlichkeit, mit der sie gesungen wird. Dem Sieg der russischen Revolution waren selbst die beruflichen Schriftsteller nicht gewachsen. Alle machten billige Anleihen und schrieben abgegriffene Worte in die Zeit. Tunda wußte gar nichts von der Billigkeit dieser Worte, sie erschienen ihm ebenso großartig wie die Zeit, in der er lebte, wie der Sieg, den er erfochten hatte.

      Mit Natascha traf er nur des Nachts zusammen.

      Sie bewohnten ein Bett in einem von drei Familien benutzten Zimmer und nährten sich mit Hilfe eines Spirituskochers, der mit Petroleum geheizt wurde. Ein Vorhang, aus drei blauweiß gestreiften Schürzen zusammengenäht, spielte die Rolle einer Wand, einer Tür und eines Fensters. Tunda, wie alle Männer ein Sklave der Gewohnheit, die man Liebe nennt, verstieß doppelt gegen die Gesetze, die Natascha aufgestellt hatte, indem er eifersüchtig wurde. Er machte Natascha laute Vorwürfe, mit der Harmlosigkeit naiver Männer, die glauben, es genüge, unsichtbar zu sein, um auch nicht gehört zu werden. Übrigens kümmerten sich die Nachbarn, die ihre Neugier allmählich in dieser Enge verloren hatten, ungefähr wie lebenslänglich Eingekerkerte das Augenlicht verlieren, gar nicht um den Inhalt der eifersüchtigen Mahnungen und Klagen Tundas, sondern nur um die Störung, die sie bedeuteten.

      Tunda wollte wissen, was Natascha den Tag über bis Mitternacht tat. Sie hätte, selbst wenn es ihre Grundsätze gestattet hätten, nicht erzählen können, denn es war viel. Sie organisierte Frauenheime, lehrte Wöchnerinnen Hygiene, beaufsichtigte obdachlose Kinder, hielt Vorträge in Fabriken, in denen die Arbeit unterbrochen wurde, damit sie den Marxismus ungestört erläutern könne, arrangierte revolutionäre Theatervorstellungen, führte Bäuerinnen, in Museen, versenkte sich in die Kulturpropaganda, ohne die breiten Reiterhosen, in denen sie gekämpft hatte, gegen einen Rock zu vertauschen. Sie blieb gewissermaßen eine Frontkämpferin.

      Den Vorwürfen Tundas begegnete sie, ja, sie kam ihnen zuvor, mit anderen, die im Zusammenhang mit der Größe der Zeit wichtiger waren.

      »Weshalb arbeitest du nicht?«, rügte sie, »du ruhst auf deinen Lorbeeren aus. Wir haben noch nicht den Sieg, es ist noch Krieg, er beginnt jeden Tag aufs neue. Die Zeit des Bürgerkriegs ist vorbei, der viel wichtigere Krieg gegen das Analphabetentum beginnt. Wir führen heute einen heiligen Krieg um die Aufklärung unserer Massen, um die Elektrifizierung des Landes, gegen die Verwahrlosung der Kinder, für die Hygiene der arbeitenden Klasse. Für die Revolution ist uns kein Opfer zu teuer«, sagte Natascha, die im Felde immer origineller gesprochen hatte, aber seit ihrer gesteigerten öffentlichen Tätigkeit nicht anders mehr reden konnte.

      »Da hast du was von Opfern gesagt«, erwiderte der naive Tunda, der sich von Zeit zu Zeit seine eigenen Gedanken über die historischen Ereignisse zu machen pflegte, »ich wollte dich schon oft fragen, ob du nicht auch dieser Meinung bist: ich stelle mir die Zeit des Kapitalismus so vor, daß er die Zeit der Opfer war. Seit den ersten Anfängen der Geschichte opferten die Menschen. Zuerst Kinder und Rinder für den Sieg, dann opferten sie die Tochter, um den Ruin des Vaters zu verhindern, den Sohn, um seiner Mutter ein angenehmes Alter zu bereiten, die Frommen opferten Kerzen für das Seelenheil der Toten, die Soldaten opferten ihr Leben für den Kaiser. Sollen wir nun auch für die Revolution opfern? Mir scheint, jetzt beginnt endlich die Zeit, in der man nicht opfert. Wir haben nichts,