Название | Geschichten aus einem anderen Land |
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Автор произведения | Joachim Gerlach |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783737529198 |
Endlich fand die längst fällige, von Holstein und anderen mit aller Nachhaltigkeit eingeforderte Parteiversammlung statt. Holstein ging nach Lage der Dinge immer noch davon aus, dass nur eine konsequent demokratisch reformierte SED die anstehenden Probleme lösen könnte. Neues Forum, Vereinigte Linke, Demokratie waren allesamt Gruppierungen ohne Rumpf, waren nur Köpfe. Die neugegründete SPD-Ost hatte kaum Zulauf, schon gar nicht von den Massen. Die SED aber verfügt noch immer über Millionen von Mitgliedern, das waren doch nicht bloß lauter Luftblasen, da steckte doch geballtes Wissen und Gewissen dahinter, nur schnell freimachen musste sie sich von allen stalinistischen Inhalten, Erscheinungsformen und Funktionsträgern.
Als Holstein auf der Parteiversammlung dann seine Positionen verteidigte, und das DDR-Wirtschaftssystem als einen Lego-Bausteinkasten bezeichnete, den das Politbüromitglied Mittag offenbar je nach seinen Vorstellungen und Wünschen gebrauchte, entstand heftiger Tumult. Kein Wunder, die vor ihm Sitzenden waren allesamt Wirtschaftsplaner und hatten am Versagen der DDR-Wirtschaft ihren eigenen Anteil, der eine mehr, der andere weniger. Dann legte Holstein entgegen der ihm eigentlich noch immer auferlegten Schweigepflicht offen, dass er es zutiefst bedaure, zeitweilig im Auftrag des Ministeriums für Staatssicherheit und damit im engsten Sinne für dieser Partei- und Staatsführung tätig gewesen zu sein. Paulig, schon immer ein besonders eifernder Genosse, sprang wie von einer Tarantel gebissen von seinem Stuhl hoch, dass dieser mit Getöse nach hinten fiel und schrie in höchster Erregung und mit überschnappender Fistelstimme: „Das ist Verrat, das ist Verrat!“. Die stalinistische Fraktion der Versammlung forderte laut durcheinanderschreiend Holsteins sofortigen Parteiausschluss. Besonders hervor taten sich dabei zwei Parteimitglieder, welche schon immer, obgleich ohne dahinterliegendem Karrierestreben, etwas verworrene Positionen vertraten. Zum einen der Leiter der hauseigenen Telefon- und Fernmeldebrigade Schilling, zum anderen Holsteins Holsteins Kollegin und Fast-Nachbarin Dimitreos.
Schilling, das wusste Holstein, war ein rechthaberischer Einfaltspinsel, der zu oft schon mit dummen Bemerkungen auffiel. Erst kürzlich hat er allen Ernstes behauptet, wäre es ungerecht, wenn der Chefchirurg im Krankenhaus mehr verdient als die Putzfrau. Dies mit der Begründung, ohne die vorher den OP-Saal reinigende Putzfrau könne der Chirurg nicht operieren. Zudem war allgemein bekannt, dass Schilling dafür Verantwortung trug, dass zu den alljährlichen Maidemonstrationen der Beifall nicht verebbte. Wenn die auf der Tribüne Stehenden gegen Mittag müde wurden, und der Applaus, den sie der an der Tribüne vorbeimarschierenden Menge spenden, spürbar nachließ, drehte Schilling, der für die ordnungsgemäße Beschallung mit Arbeiter- und Kampflieder zu sorgen hatte, am Regiepult den eingemischten Beifall stärker auf. „Das bringt immer ganz enorm“, so befand er,“ die Flügellahmen wieder auf Trab.“
Kollegin und Fast-Nachbarin Dimitreos hatte vor vielen Jahren einen der Griechen geheiratet, die als kommunistische Partisanen in der ELAS kämpften und danach in die DDR übersiedelten. Manchmal fuhren Holstein und sie nach Arbeitsschluss mit Bus und Bahn zusammen nach Hause. War die Dimitreos auch freundlich, nett, stets hilfsbereit und umsorgend, so war sie andererseits von einer derart frappierenden politischen Naivität und einem solchen missionarischem Fanatismus befangen, dass es Holstein mehrfach die Sprache verschlug. Eines Abends stießen sie einmal nahe Holsteins Wohnung auf einen dort schon geraume Zeit gelbbraune Brühe über den Fußweg sprudelnden Wasserrohrbruch.
„Siehst du Gert, wenn wir einmal den Kommunismus erreicht haben, werden die Bewohner dieses Hause ganz freiwillig und unentgeltlich daran gehen, den Schaden selbst zu beheben.“
Holstein sah sie vor seinem geistigen Auge aus dem Haus treten, Hacken und Spaten geschultert. Den dicken Polizisten Bräuer, den eleganten Hochschullehrer Schuster, die protzige Intershop-Verkäuferin Zwiesel und all die anderen, die er mit Müh‘ und Not wenigstens dem Gesicht nach diesem Haus zuordnen konnte. Aber beim besten Willen gelang es ihm nicht, sich vorzustellen, dass diese Leute mit Fachkompetenz den Wasserrohrbruch beheben könnten Ganz und gar nicht vorstellen konnte er sich, dass sie dies darüber hinaus auch noch gänzlich freiwillig ohne jedwede Bezahlung tun würden.
„Wäre es da nicht ratsamer, wir verbinden unserer Vorstellung von dieser lichten Zukunft damit, dass schnell ein Fachmann zur Hand wäre, wenn man ihn braucht?“, hielt er ihr damals vorsichtig entgegen. Sie hatten nunmehr seinen Hauseingang erreicht, da galt es zu verhindern, dass Kollegin Dimitreos ihn vor seiner Haustür mit der ihr eigenen Lautstärke in einen mit abstrusen Ideen angereicherten Meinungsaustausch verstrickte.
„Nein, euch werde ich nicht das Feld überlassen,“ antwortete Holstein nun in der Versammlung auf das Ansinnen seiner Gegenspieler, „nun gerade nicht.“
Im Verlauf der hitzigen Debatte wählte ihn die Mehrheit der Anwesenden dann in die neue Parteileitung, und Holstein forderte:
Lückenlose Aufdeckung vergangener Parteipolitik, Neufassung von Programm und Statut, Abänderung von Namen und Symbol, radikale Trennung von allen Stalinisten. De facto liefen diese Punkte auf die Auflösung der SED und deren völlige Neukonstituierung hinaus.
Noch vor dem Parteitag aber trat Holstein am 4. Dezember 1989 aus der SED aus, nachdem er die dort gerade aufgenommene Funktion niedergelegt hatte. Er tat dies angesichts der immer offener zu Tage tretenden drastischen Verfehlungen, ja Verbrechen der bisherigen Parteiführung. Mit diesem Parteisystem wollte er nichts mehr gemein haben, schon gar nicht den über und über besudelten Namen.
Der mit all seiner Inkonsequenz im Dezember 89 durchgeführte Parteitag der SED rechtfertigte Holsteins Entschluss. Immer wieder auf die drohende Spaltung der Partei verweisend - die inhaltlich längst vollzogen war - ließ der Parteitag mit seinen Ergebnissen auch den hartgesottenen Stalinisten und ihren Helfershelfern die Möglichkeit des Verbleibs in den Reihen der SED-PDS. Damit blieben die personifizierten Wurzel des Stalinismus erhalten, die Chance für eine wirkliche Erneuerung war vertan.
Genosse Paulig, Holsteins eifernder Widerpart, trat kurz nach Holstein aus der Partei aus und gehörte zu den ersten Mitgliedern des Beamtenbundes in der neu gebildeten Behörde.
Setzer, Holsteins neuer Abteilungsleiter kurz vor der Wende, avancierte bis zum Anschluss an die BRD zum Leiter der örtlichen Niederlassung der Treuhandgesellschaft. Heute führt er kleines Unternehmen, worin er sich mit der Archivierung von Unternehmensunterlagen seine Brötchen verdient.
Schilling, ehemals Leiter des Reservistenkollektives und Stimulator der Beifallsbekundungen zum Ersten Mai, fiel mit Beginn der Umstrukturierung wie die meisten der über eintausendfünfhundert Beschäftigten in die Warteschleife und wurde nicht wieder in die Belegschaft der nun neu gebildeten Behörde übernommen. Er machte sich mit einem kleinen Unternehmen, welches sich dem Verkauf von Büromitteln und Telefonanlagen verschrieb, selbstständig. Die allgemein erbärmliche Ertragslage des Unternehmens, verbunden mit massiven Zahlungsausständen seiner Kundschaft, veranlasste ihn in der Mitte der neunziger Jahre alle seine für die Rente hinterlegten Ersparnisse aufzubrauchen und die Krankenversicherung zu kündigen. 1999 gab er, nachdem er schon seit Monaten weder die Miete für seine Wohnung noch für das kleine Büro mehr bezahlen konnte, ihm sämtliche Konten wegen immenser Überziehungen gesperrt waren, das Unternehmen auf und meldete sich beim Sozialamt. Schilling ist noch heute Mitglied der Linken.
Für die Kollegin Dimitreos, die im herbeigesehnten Kommunismus aus normalen Hausbewohnern freiwillige Reparaturbrigaden rekrutieren wollte, brach mit der Wende eine ganze Welt zusammen. Bald wurde sie auch entlassen und dem sich zunehmend rasch mausernden Heer der Arbeitslosen im Osten Deutschlands zugestellt. Holstein traf sie Jahre später, da arbeitete sie ehrenamtlich für eine kirchliche Hilfsorganisation und wollte sogleich mit allem Eifer auch Holstein dafür gewinnen.
Genosse Wunderlich, der sich einst neben Holstein um den raschen Einsatz Computers verdient machte, verblieb im aus der alten DDR-Behörde hervorgegangenen Regierungspräsidium. Hier erklomm er mit Intelligenz und ideenreicher Anpassung stetig Stufe für Stufe. Zur Volkskammerwahl im März 1990,