Название | Ein Anfang am Ende des Hungers |
---|---|
Автор произведения | Sylvia Baumgarten |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738090451 |
„Kann das nicht Andreas … ? Ach so … und wann? Ok, ich bin halb sieben da …“ und bevor sie wieder in den Flur kommt, renn ich die Treppe hoch direkt ins Bad, schließ die Tür ab, reiß mir meine Klamotten runter, mach das Wasser an und zieh den Vorhang zu.
Zu heiß, denk ich, als das Wasser über meine Arme und Beine läuft. Ich dreh die Temperatur zurück und stell mich komplett unter die Dusche. Das Wasser läuft und läuft und dann hör ich, wie meine Mum an die Tür klopft. Ich leg meine Hände über meine Ohren, aber ich hör trotzdem, dass sie „Jule“ ruft.
Irgendwann geht sie wieder, denk ich. Ich stell das Wasser aus und lausch – alles ruhig, na bitte. Ich greif nach dem Duschbad, verreib es zwischen den Händen und auf meinem Körper und spür meine Knochen - direkt unter meiner Haut.
Ich guck an mir runter und seh meine Kniegelenke. Sie sehen total riesig aus und mein Körper fühlt sich so hart an, als würde ich nur aus Knochen bestehen.
Ich hör auf, mich weiter einzuseifen, dusch den Schaum ab und greif nach meinem Handtuch. Mir ist immer noch kalt und ich wickel mich fest ein. Als ich aus der Dusche steige, stoß ich an die Waage und frag mich, wann ich mich eigentlich zuletzt gewogen hab. Ich stell mich gleich drauf, so wie ich bin, mit dem Handtuch, und dann seh ich die Zahl, mein Gewicht, und geh wieder runter. Ich setz mich hin, auf die Matte direkt vor der Dusche und starr die Waage an.
Es ist nur eine Zahl, denk ich, nur eine Zahl, Jule. Aber die Zahl ist ein Gewicht, mein Gewicht, und dafür ist sie zu niedrig.
Verdammt, wie spät ist es? Ich spring auf, trockne mich ab, föhn kurz meine Haare, mach mir nen Zopf und dreh den Schlüssel im Schloss. Ich warte kurz und lausch. Alles ruhig – und wenn meine Mum noch draußen steht? Vorsichtig mach ich die Tür auf, aber es ist niemand da. Ich husch in mein Zimmer, greif mir die Klamotten von gestern, zieh mich an, pack mein Handy und mein Geld in meine Tasche und geh die Treppe runter.
Meine Mum telefoniert.
„Thomas, ich bitte dich, lass mich mit deinen Erklärungen in Ruhe. Du hattest immer eine Erklärung für Überstunden und Dienstreisen … darum geht es doch jetzt gar nicht … Jule ist auch deine Tochter …“
Dad, denk ich, sie telefoniert mit meinem Dad.
„Moment mal Thomas … Jule?“
Ich zieh hastig Stiefel und Jacke an, nehm meinen Schlüssel vom Schrank, ruf:
„Ich geh ins Kino mit Nina“, zieh die Tür hinter mir zu und renn schon wieder durch den Garten zur Straße.
An der Bushaltestelle stehen jede Menge Leute. Ich stell mich dazu und denk, die starren mich an. Ich will in die Gesichter gucken, aber ich trau mich nicht, weil ich nicht weiß, wo ich hingucken soll, wenn sie echt starren, aber dann kommt schon der Bus. Ich steig ein und während er durch die Straßen fährt, frag ich mich, warum meine Mum mit meinem Dad telefoniert, und ob jetzt alle spinnen.
Die Haltestelle ist direkt vorm Kino und als ich aussteig, wartet Nina schon auf mich.
„Mensch Jule, ich dachte, du kommst nicht mehr.“ Sie nimmt mich in den Arm und ich nehm sie in den Arm und dann gehen wir rein. Wir kaufen die Tickets und Nina kauft sich Popcorn und Cola und ich ein Wasser.
Der Kinosaal ist dunkel und es laufen schon die Trailer für die neuen Filme. Wir suchen uns nen Platz und sitzen gerade ein paar Sekunden, als der Film anfängt.
Ich guck auf die Leinwand, nipp an meinem Wasser und hör Nina und die anderen lachen, aber ich hab keine Ahnung, worüber sie lachen, weil ich andere Bilder sehe als sie - die Zahl auf der Waage und meine Mum, und ich hör, wie sie schreit, und wie sie mit meinem Dad telefoniert, und dann seh ich Leute, die mich anstarren und mich gruselig finden …
„Jule? … Jule!“ Ich zuck zusammen, als ob mich jemand aus dem Tiefschlaf geweckt hätte. Auf der Leinwand laufen Buchstaben vorbei, der Film ist zu Ende. Nina steht auf, geht aus der Reihe und wartet im Gang. Als ich auch aufsteh, hab ich die Wasserflasche noch in der Hand und wunder mich, dass fast nix raus ist. Ich stell sie in eine Halterung neben nem Kinosessel und geh zu Nina.
„War nicht der Knaller für dich der Film, oder?“, fragt sie. Ich schüttel mit dem Kopf und geh mit ihr nach draußen.
„Schon halb sechs“, sagt Nina, „ich muss nach Hause. Mathe, du weißt ja. Ist das ok?“
„Klar“, sag ich und denk, ich muss noch Zeit totschlagen, meine Mum geht erst um sechs, da kommt schon Ninas Bus. Sie steigt ein, setzt sich ans Fenster, winkt mir zu und weg ist sie wieder.
Ich kann zu Fuß gehen, denk ich und geh los, und dann fällt mir ein, dass die Website ab sechs wieder offen ist. Ich geh schneller, weil ich wissen will, ob mir jemand geantwortet hat und als ich in unsere Straße komm, fährt meine Mum gerade aus der Garage. Ich stell mich hinter ne Hecke, damit sie mich nicht sieht und könnt glatt kotzen deswegen.
Als ich reinkomm, ist es kurz nach sechs. Ich renn nach oben, fahr den Rechner hoch und meld mich an. Diesmal klappt es sofort. Im Forum ist schon richtig was los. Ich klick auf „Neu hier“ und les den ersten aktuellen Beitrag.
Kenn ich, denk ich, ich wollt auch nur ein paar Pfund – ok, nicht wegen nem Kerl – wegen ner Hose, aber immerhin hab ich keine Appetitzügler genommen …
Ich les weiter und hör auf zu lesen, weil ich nicht aushalten kann, was ich les, weil Tami von ihrem Onkel missbraucht wird und hofft, dass er sie in Ruhe lässt, wenn sie ganz dünn ist, und wenn nix anderes hilft, schreibt sie, dann verhungert sie halt.
Total entsetzt les ich die Antworten - sie soll nicht aufgeben, sich Hilfe suchen und ihren Onkel anzeigen und ich seh die Links von den Beratungsstellen und Telefonnummern und Ansprechpartner.
Meine Hände werden kalt und zittern. Ich wisch sie an der Jeans ab, spür meine knochigen Beine und komm mir schäbig vor, weil ich wegen ner Hose dünner werden wollte, während andere hungern, weil man ihnen weh tut.
Ich muss wieder essen, denk ich, weil mir sonst auch egal wird, dass ich verhunger und dann seh ich den Beitrag von Sternenzelt, ganz unten auf der Seite, direkt über meinem. Ich les, was sie schreibt und merk, sie schreibt an mich.
Ich stürz mich auf ihre Antwort, damit ich das Entsetzen nicht mehr aushalten muss, und bin mit jedem Satz enttäuschter, weil Sternenzelt schreibt, dass ich mir bei meiner Lehrerin, meinem Hausarzt oder bei einer Beratungsstelle Hilfe suchen soll, und weil ich finde, dass das ne brave Standardantwort ist.
Nen Moment sitz ich da und frag mich, ob Tami ne Frau Kramer oder nen guten Hausarzt kennt, oder ob sie die Kraft hat, eine von den Nummern in ihr Handy zu tippen.
Ich fühl mich total im Stich gelassen und überleg, ob ich mich abmelde und einfach nicht mehr auf die Seite geh, weil ich keinen Bock auf „Hilfesuchen“ hab, sondern ne fertige Lösung brauch, aber dann hör ich Nina, wie sie anruft und von dem toten Model erzählt und ich überleg es mir anders, schreib an Sternenzelt, dass ich keine brave Standardantwort, sondern ne „eigene“ will und schick die Nachricht ab.
Ich fahr den Rechner runter und pack meine Sachen für morgen. Meine Hände sind noch kalt, aber das Zittern lässt langsam nach, dafür knurrt und rumpelt es in meinem Magen, weil ich nix gegessen hab.
Ich frag mich, ob das Rumpeln aufhört, wenn man Appetitzügler nimmt, und warum ich das noch nicht ausprobiert hab, aber dann fällt mir ein, dass ich mal irgendwo gelesen hab, wie gefährlich das Zeug ist.
Vielleicht hilft es ja schon, wenn ich nur ne Kleinigkeit esse. Ich steh auf, geh nach unten und überleg bereits auf der Treppe, welche „Kleinigkeiten“ keine Kalorien haben.
In der Küche liegt ein Zettel: „Warte nicht mit dem Essen, wird spät, Bussi, Mum.“
Ich mach den Kühlschrank auf und wieder zu - greif nach dem