Ein Anfang am Ende des Hungers. Sylvia Baumgarten

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Название Ein Anfang am Ende des Hungers
Автор произведения Sylvia Baumgarten
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783738090451



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wird immer noch mulmiger beim Lesen und außerdem ist mir saukalt. Ich hol meine Jacke vom Bett und kuschel mich erstmal ein.

      Puh, denk ich, was die hier schreiben, kenn ich auch – da gibt’s nichts schönzureden, aber ich bin sicher, dass ich sofort aufhören könnte, wenn ich wollte – oder doch nicht?

      Für heute reicht es mir jedenfalls. Draußen ist es inzwischen dunkel. Total geschafft log ich mich aus. Facebook ist noch offen, aber ich hab immer noch keinen Bock auf Kontakte – also auch hier – Abmelden – Start und Ausschalten. Ich bin hundemüde und leg mich auf mein Bett.

      Kapitel 2

      Draußen ist es schummrig und Regentropfen trommeln aufs Dach, als ich wieder aufwach. Mein Wecker zeigt halb acht. Verdammt, verschlafen. Ich setz mich auf, aber dann fällt mir ein, dass Samstag ist und ich lass mich nach hinten fallen.

      Weiterschlafen, denk ich, und warte auf wohlige Schläfrigkeit, aber nichts passiert. Ich bin hellwach – am Samstag um sieben Uhr dreißig – na super … und was fang ich jetzt an mit dem Tag? Bei Facebook ist noch keiner. Ich könnte ne Runde laufen, aber bei Regen? Was liegt heute sonst noch an? Abends Kino mit Nina.

      Ach du Schande, Nina, ich wollt mich doch noch melden – die ist bestimmt stinksauer.

      Ich such auf dem Schreibtisch nach meinem Handy und find den Zettel mit der hungrig-website. Ob es da neue Beiträge gibt? Ich könnte ja einfach mal gucken – nur ganz kurz. Während mein Rechner hochfährt meldet mein Handy eine Nachricht bei WhatsApp – bestimmt von Nina.

      Sie ist von meinem Dad und er schreibt, dass wir unser Treffen morgen leider verschieben müssen, Termine.

      „Aber wir holen das nach, versprochen!“ … bla …

      Hatte ich sowieso nicht auf dem Schirm – bisher haben wir fast alle Treffen „verschoben“. Dafür krieg ich ein dickes Geschenk zum Geburtstag und Papas Gewissen freut sich wieder.

      Ich leg das Handy zurück und fühl mich ätzend – außerdem knurrt mein Magen und Hunger ist das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Vielleicht hilft ja Ablenkung. Ich klick mich auf die hungrig-website, da klopft es an meiner Tür und meine Mum guckt um die Ecke.

      Was wollen die alle von mir?, denk ich, und würd am liebsten hysterisch kreischen.

      „Morgen Jule“, sagt meine Mum, „ich hab uns Brötchen geholt. Kommst du zum Frühstück?“

      Scheinbar rächt sich gerade das frühe Aufstehen – ich hab Halluzinationen. Seit wann holt meine Mum am Samstag Brötchen? Normalerweise fährt sie um diese Zeit in die Redaktion und kommt erst mittags zurück. Was mach ich denn jetzt? Mein Magen knurrt weiter, mein Gesicht wird heiß und mein Herz schlägt wie blöd – Panik!

      „Kommst du?“, fragt meine Mum noch einmal und ihre Stimme klingt vorsichtig.

      „Ich dachte, du bist schon weg“, bring ich mühsam raus.

      „Bin ich auch fast, aber wir haben schon so lange nicht mehr zusammen gefrühstückt.“

      An mir liegt’s nicht, denk ich und sag:

      „Ich muss mich noch auf Mathe vorbereiten, schreiben wir Montag – ich ess dann hinterher. Kannst ja alles stehen lassen.“

      „Schade“, sagt meine Mum und ich hoff, dass sie gleich geht, aber dann fällt ihr der Termin mit meinem Dad ein.

      „Triffst du dich morgen mit deinem Vater?“

      „Nee, hat abgesagt“, sag ich und weiß, was jetzt kommt.

      „Klar, wie üblich – ist ja alles wichtiger als seine Familie – das war schon immer so.“

      Ich schluck, weil meine Mum das ausspricht, was ich gerade gedacht habe, aber ich will’s nicht hören, nicht jetzt. Am liebsten würd ich sie anschreien:

      Geh endlich raus, Mum – frühstücken oder arbeiten – egal – Hauptsache raus, aber stattdessen sag ich so cool wie möglich:

      „War nicht so schlimm“, obwohl meine Augen brennen, und ich glatt losheul, wenn ich weiterrede.

      Ruhig Jule, denk ich, bleib ganz ruhig, und sag:

      „Mum, ich muss jetzt echt was tun.“

      Meine Lippen zittern. Ich dreh’ mich schnell zum Schreibtisch und lausche. Endlich schließt sich die Tür. Ein Blick über die Schulter – sie ist weg.

      Verdammt, denk ich, sie soll wiederkommen und mich in den Arm nehmen, so wie früher - und dann fang ich an zu heulen und heul und heul bis ich hör, dass unten die Haustür zufällt.

      Ich wisch mir mit beiden Händen durchs Gesicht, überleg, was ich jetzt am besten mache und geh nach unten. Auf dem Küchentisch steht ein Korb mit Brötchen und Croissants – Unmengen! Wer soll das denn essen? Daneben Butter, Marmelade, Nutella.

      Hunger, denk ich, ich hab Hunger – und dann hör ich auf zu denken und fang an zu essen und als ich wieder anfange zu denken, ist der Korb leer. Ich fühl mich entsetzlich. In meinem Kopf tobt ein Gewitter.

      Aufhören, das soll aufhören, sofort! Ich muss ne Lösung finden, Schadensbegrenzung, egal wie.

      In Panik renn ich die Treppe nach oben, reiß frische Laufklamotten aus dem Schrank und zieh mich an, während ich wieder runter renne. Gefühlte Stunden später hab ich endlich Schuhe an und lauf durch den Regen. Ich warte auf den „Hype“, aber nichts passiert. Lauf schneller, denk ich, krieg Seitenstiche und hab immer noch das Gewitter im Kopf.

      Die Seitenstiche werden schlimmer, ich lauf langsamer und versuch ruhiger zu atmen. Es gießt in Strömen. Ich will nach Hause, und dann soll alles wieder gut sein, so wie gestern, bevor ich wusste, dass es „ich-bin-hungrig“ gibt.

      Der Regen hat nachgelassen. Noch fünfzig Meter bis zur Dusche. Langsam lauf ich aus. Die Garage ist offen und leer. Niemand zu Hause – auch gut.

      Ich dusche lange und heiß, trockne mich ab, häng mein Handtuch weg und guck kurz in den Spiegel.

      Alles easy, denk ich, kein Grund zur Sorge. Klar hab ich abgenommen, aber von „klapperdürr“ oder „gruselig“ kann echt nicht die Rede sein.

      Ich zieh mich an, geh direkt an meinen Rechner, öffne „ich-bin-hungrig“, log mich ein und klick auf „Gesund“ – keine Ahnung warum. Vielleicht will ich einfach lesen, dass es normal ist, wenn man am liebsten jeden Tag stundenlang durch den Wald laufen würde, den Kalorien- und Fettgehalt von sämtlichen Lebensmitteln kennt, in Panik gerät, wenn irgendjemand aus der Klasse Kuchen mitgebracht hat, seine Klamotten in der Kinderabteilung kauft und die Hosen trotzdem zu weit sind, oder wenn man von Gesprächen gelangweilt ist, in denen es nicht um Sport oder Diäten geht, und darum Verabredungen am liebsten ständig absagen würde …

      Oh Gott , Nina und Kino – ich hab mich immer noch nicht gemeldet – wo ist mein Handy?

      Liegt noch da, wo ich es hingelegt hatte, nachdem mir mein Dad nen Korb gegeben hat. Ich such nach Ninas Namen, geh auf Nachricht senden und schreib:

      „Kann nicht mit ins Kino, geht mir nicht gut und muss noch für Mathe lernen. <3 Jule

      Dass die ersehnte Erleichterung nach dem abgesagten Treffen mit Nina ausbleibt, ignorier ich und les den vorletzten Beitrag auf der Website.

      Callimeronika ist gerade aus der Klinik zurück und fragt, ob es normal ist, dass es ihr trotz ambulanter Therapie so schwer fällt, sich wieder im Alltag zurechtzufinden.

      Die Antwort kommt von Sternenzelt und ist zehn Minuten alt:

      „Liebe Callimeronika,

      während du in der Klinik warst, haben im Prinzip andere deinen Alltag organisiert, damit du dich intensiv darauf konzentrieren konntest, gesund zu werden. Jetzt musst du dich wieder selbst darum kümmern und ich finde es absolut verständlich, dass das zu Anfang sehr anstrengend ist. Veränderungen