Warum antwortet er nicht? Hat er meine SMS nicht erhalten?
Ich beschließe, ihm erneut zu schreiben. „Hallo Tim, ist alles bei dir in Ordnung? Mir geht es gut. Melde dich bitte.“ So, nun hat er Zeit, mir zurückzuschreiben. Zumindest solange ich dusche.
Und das tue ich ausgiebig. Da mein Handy keinen Mucks von sich gibt, lasse ich mir alle Zeit der Welt. Ich rasiere mir die Beine und Creme mich nach dem Duschen ein. Nur der Verband um meinen Hals ist unschön. Aber mir ist klar, dass es darunter noch viel unschöner aussieht. Als ich in meinen Schlafdress steige und den Bademantel überziehe, denke ich mir, dass ich Marcel nicht länger warten lassen kann.
Ich bin wütend. Warum meldet sich Tim nicht? Erneut greife ich nach dem Handy und wähle mit bis zum Hals schlagenden Herzen seine Nummer. Es klingelt und klingelt und klingelt, bis die Mailbox anspringt. Erst will ich auflegen. Doch dann spreche ich doch nach dem Piepton eine Nachricht auf das Band. „Hallo Tim, ich bin es, Carolin. Warum meldest du dich nicht? Ist alles in Ordnung?“
Ich lege auf. Doch irgendetwas in mir tobt wie ein lavasprühender Vulkan und ich drücke erneut die Anruftaste. Mir ist klar, dass das an Telefonterror grenzt. Aber wenn ich das Badezimmer verlasse, werde ich das Handy wieder ausmachen müssen. Also muss ich ihn hier und jetzt erreichen.
Der Anruf wird unterbrochen und ich starre auf das Display. Bin ich weggedrückt worden? Verdammt!
„Dann leck mich doch!“, fauche ich und mache das Handy aus. „So ein blöder Mistkerl!“
Ich bin dermaßen geladen, dass ich mich erst beruhigen muss, bevor ich zu Marcel zurückkehre. Tim ist in diesem Moment für mich gestorben. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst.
Ich nehme meine Sachen mit und gehe in mein Zimmer zurück. Hatte ich irgendwie erwartet, Marcel sich halb nackt auf meinem Bett rekelnd vorzufinden, so habe ich mich getäuscht. Meine Musik läuft und er sitzt auf dem Sofa, in irgendwelche Hefte vertieft. Als ich hereinkomme, sieht er auf. „Was ist das?“, fragt er mit unergründlichem Blick und ohne Umschweife.
Verdammt, die Hefte von Kurt Gräbler. Wo hat er die denn aufgestöbert?
„Ach nichts“, raune ich und gehe zu ihm. Will er das wirklich durchziehen … mir nicht nahekommen zu wollen?
Ich nehme ihm die Hefte aus der Hand und lege sie zwischen meine Schulsachen. Langsam ziehe ich den Gürtel meines Bademantels auf. Ich muss Marcel schnell auf andere Gedanken bringen. Die Hefte von Kurt Gräbler haben in unserem Leben nichts mehr zu suchen und ich sehe nicht ein, dass er jetzt kneift. Ich bin wegen Tim geladen genug, um alles durchzuziehen, was ihn ärgern könnte.
Marcel steht auf und sieht mir forschend ins Gesicht, als wäre er sich nicht sicher, dass ich auch wirklich ich bin. Ohne meinen Bademantelgürtel öffnet sich der weiche Stoff mit dem Schritt, den ich auf Marcel zugehe. Ich nehme sein Gesicht in beide Hände, recke mich ihm entgegen und küsse ihn.
Er nimmt mich vorsichtig in den Arm und erwidert den Kuss zurückhaltend. Dann schiebt er mich sachte etwas von sich ab und sieht mir in die Augen.
Ich denke, er fragt jetzt wieder nach den Heften. Aber Marcel raunt leise: „Du musst das nicht tun. Ich schlafe auch wieder auf dem Sofa, wenn dir das alles zu viel wird.“
Was? War ich noch nicht deutlich genug?
Diesmal bin ich es, die ihn an die Hand nimmt und zum Bett zieht. Marcels Blick sagt mir, dass er sich immer noch nicht sicher ist, was das werden soll.
Ich lasse meinen Bademantel fallen und ziehe unbeholfen an seinem T-Shirt.
Er hilft mir, es auszuziehen und einen Moment später folgt seine Jeans.
Ich nutze die Zeit und bestaune seinen schönen Oberkörper. Er ist schlank, aber nicht dünn und er ist sportlich. Seine Muskeln sind deutlich zu erkennen und ich spüre das Verlangen in mir aufkeimen, ihn berühren zu wollen.
Langsam krabbele ich auf das Bett, ohne ihn aus den Augen zu lassen und ziehe ihn an der Hand hinterher. Er wirkt plötzlich so verunsichert, dass ich ihn einfach in die Arme nehmen muss und ihn küssen will. Sein Gesicht ist wie ein offenes Buch und mir kommt der Gedanke, dass er deshalb immer eine Kappe tief im Gesicht trägt. Er ist unglaublich.
Als er mich nun in seinen Arm zieht und mit seiner unverkennbar vor Verlangen dunklen Stimme stammelt, dass ich ausgesprochen gut dufte und er mich unglaublich liebt, gibt es für mich kein Zurück mehr. Mit den leidenschaftlichen Küssen, dem innigen aneinanderdrängen unserer Körper und heißen Berührungen, verlieren wir alle Hemmungen und irgendwann ist mir alles andere egal.
Nach und nach fallen alle Kleidungsstücke und ich ziehe ihn auf mich, von meinen Gefühlen getrieben, die seine Hände und seine Lippen auf meinem Körper auslösen.
„Hey!“, stammelt er leise und sieht mich unsicher an: „Bist du dir sicher?“
Ich nicke nur, weil ich glaube, keine gängige Stimme mehr zu haben.
Er greift nach seiner Hose und hebt sie vom Fußboden hoch.
Ich bin etwas irritiert. Erst als ich das Kondom in seiner Hand sehe, weiß ich, was er vorhat und bin ihm unendlich dankbar. Ich hatte keine Sekunde daran verschwendet.
Komisch. Bei Tim war das immer ein alles beherrschender Gedanke. Aber Tim wollte auch nichts anderes, als mit mir schlafen, und das am besten sofort.
Marcel schiebt sich neben mich, vorsichtig, als müsse er erneut meine Gefühle ausloten.
Ich dränge mich in seinen Arm und er küsst mich so sanft und so voller Liebe, dass ich denke, ich muss auf der Stelle sterben, wenn er aufhört. Er lässt sich erneut Zeit und ist so liebevoll, dass ich wirklich alle Angst und Anspannung verliere. Ich bin nur noch verwirrt, was für ein aufregendes Gefühlschaos er in mir auslöst und wie schön das mit ihm ist, als er sich langsam auf mich schiebt und seine Küsse drängender werden. Völlig bereit zu allem lasse ich ihn zwischen meine Beine gleiten. Ich bin mir sicher, dass selbst Tim, Kurt Gräbler und Julian zusammen uns nicht mehr aufhalten können …
Ich liege an Marcel gekuschelt und schlafe bereits, als er mich sanft wachrüttelt.
„Hey, Schatz! Wach auf! Du musst dir dein Oberteil anziehen“, flüstert er.
Was? Warum das denn?
Er klettert aus dem Bett, zieht sich seine Boxershorts an und wirft seine Hose und sein T-Shirt über den Schreibtischstuhl. Meinen Bademantel hängt er an den Haken an der Tür. Dann kommt er wieder zum Bett.
„Bitte Schatz! Komm! Du musst dir das eben überziehen.“
Ich setze mich müde auf und lasse mir von ihm das Oberteil überstreifen. Dabei frage ich verwirrt: „Was ist denn los?“
Marcel lässt mich wieder in das Kissen sinken und deckt mich zu. Mein Verstand registriert das und Alarmglocken schrillen auf.
„Wo willst du hin?“, flüstere ich und will mich wieder aufsetzen.
„Deine Eltern sind gerade nach Hause gekommen. Ich wette, dein Vater kommt gleich hoch, um nach uns zu sehen und da ist es besser, wenn ich auf dem Sofa bin.“
Ich höre sein leises, amüsiertes Lachen und drehe mich zur Seite. „Okay! Aber dann kommst du wieder zu mir“, murmele ich und lasse mich schon wieder in den Schlaf sinken.
„Versprochen“, raunt Marcel mir ins Ohr und küsst mich auf die Wange.
Auch mir entgeht das Poltern auf der Treppe nicht und Marcel wirft sich mit meiner Überdecke, die eigentlich immer zusammengefaltet auf der Lehne des Sofas ihr Dasein fristet, auf das Sofa. Ich bin zu erschöpft, um mich länger wachzuhalten. Aber die Stimme meines Vaters, die irgendetwas flüstert, höre ich noch und nehme sie mit in meine Traumwelt. Er klang zufrieden.
Marcels Stimme höre ich auch, als sie mich wieder an die Oberfläche holt: „Ich bin wieder da.“
Er legt seinen Arm um mich und schiebt sich ganz dicht