Название | Die Therapeutin und er |
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Автор произведения | Gunther Dederichs |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738037890 |
3
Es sei gestern wunderschön gewesen. Überhaupt finde sie, dass es ihnen ganz gut gelingt, sich allmählich immer mehr anzunähern, und sie hoffe, dass das auch so weitergeht, auch wenn seine Noch-Frau dann wieder in der Nähe ist und ihn womöglich bedrückt. Heute Morgen sei ihr im Halbschlaf die Idee gekommen, nach Weihnachten über Silvester eine Woche in den Süden zu fliegen, was hält er davon? Das müsste man sofort buchen, wenn es nicht schon zu spät ist. Die Kanaren sollen nicht wetterbeständig sein in der Zeit, gut wäre laut Kollegin Marokko. Was meint er überhaupt zu der Idee? Marokko – wie viele Menschen lassen all ihre Habseligkeiten zurück und zahlen bereitwillig eine für ihre ärmlichen Verhältnisse horrende Summe, um sich von eben diesem Land unter Lebensgefahr über das Mittelmeer nach Europa schippern zu lassen, zu einem Kontinent, von dem man mal eben mit der Billigfliege dorthin düst, um sich an den einschlägigen Stränden nachdunkeln zu lassen und mit gelangweilter, entspannter Neugier durch die dekorativen Idyllen des Elends zu schlendern. Okay, okay, Die Stimmen von Marrakesch, hat er ja auch irgendwann gelesen, so ist das nicht. Trotzdem! Etwas sonderbar, widersprüchlich ist das schon mit den so ganz und gar unvergleichbaren Umständen und Motivationen solcher in entgegengesetzte Richtungen verlaufenden Menschenströme. Hinzu kommt bei ihm in puncto Urlaubsreisen, dass er keine Ader für allzu Exotisches hat und entsprechend auch zu der aussterbenden Spezies gehört, die diesem Kontinent nie entfleucht sind und, schlimmer noch, es nicht einmal vorhaben. Er hält es da eher mit Arno Schmidt: Eine einmalige Pflichtreise, wenn es sein muss auch nach London – der Frau zuliebe und um des lieben Friedens willen –, ansonsten ein paar stille, besinnliche Tage am Dümmersee, das sollte genügen. Dass die wahren Abenteuer sich im Kopf abspielen, wie durch den besagten Schriftsteller in so eindrucksvoller, geradezu literaturnobelpreiswürdiger Weise bewiesen, vorgelebt wurde, ist eben doch mehr als ein bloßes Pappteller-in-der-Hand-auf-Party-Bonmot. Zugegeben, manch ein braver römischer Landser war seinerzeit schon im wortwörtlichen Sinne weiter als er. Ob es zu irgendetwas nützlich war, und wenn ja, für wen oder was, sei dahingestellt. Er wolle kein Armenhaus besichtigen, begründete ihm gegenüber einst ein unverkennbar dem seinerzeitigen linken politischen Mainstream angehörender Kommilitone, mit dem er sich – die Staubmaske vor dem Gesicht, mit dem Vorschlaghammer Decken und Wände einreißend, Bauschutt und Ziegel mit der Schubkarre von einem Platz zum anderen schaffend – zeitweilig auf Baustellen verdingte, dessen Weigerung, irgendwelche Drittweltländer zu bereisen. Zudem hegt er eine nicht geringe Sympathie für die Bemerkung eines Fernsehprominenten in einem seiner Bestseller, worin es, um kein Klischee aus[zu]lassen, auf den wunden Punkt gebracht heißt: Je dümmer der Passagier, desto weiter das Reiseziel, wobei noch ein Schnelltest im Bekanntenkreis empfohlen wurde: Wer wandert im Donautal, wer fliegt auf die Malediven? Sehn Se! – eine jener ebenso kurzen wie pointierten Passagen, für die allein schon die Anschaffung des Buches lohnte. Sie hoffe, dass es nicht allzu lange dauert, bis er dies lesen kann. Schade, dass er nicht wie versprochen angerufen habe. Eigenartig, dass gerade jetzt, wo seine Noch-Frau wieder zurückkommt, ihre Kommunikation durch technische Probleme gestört wird. Ein Teil von ihr wolle sich in die altbekannten Verlustängste »stürzen«, aber merkwürdigerweise funktioniere es nicht. Der andere Teil, der sagt, »Bleib ruhig, alles kommt in Ordnung, du brauchst keine Angst zu haben« sei viel stärker – angenehm. So warte sie ziemlich ruhig ab, wie sich die Dinge entwickeln werden und schicke ihm einfach einen lieben Gruß und etwas Kraft für nicht ganz einfache Situationen.Es tue ihr leid, dass sie gestern etwas »zickig« gewesen sei – es sei das alte Muster zwischen Männern und Frauen gewesen. Da sie aber beide möchten, dass es weitergeht und da sie gestern, als er auf die Fotos seines Vaters geschaut habe, bei ihm ganz viel Liebe wahrgenommen (oder vielleicht besser: unterschwellig gespürt) habe, denke sie, dass es ein großes Potenzial zwischen ihnen gibt. Im Übrigen habe sie gedacht, es sei vielleicht doch keine so gute Idee, seine Mutter jetzt kennenlernen zu wollen. Wenn sie nur so kurz da sei, will sie ihn doch für sich haben, was sie verstehen könne, und nicht eine für sie fremde Frau treffen, von der sie noch gar nicht wissen kann, ob sich das überhaupt lohnt. Also stelle sie sich darauf ein, ihn erst am Sonntag (?) wieder zu sehen. Aber vielleicht könnten sie dafür öfter mailen und telefonieren?Beim Ausloten ihrer Tiefen fördere sie doch einen leichten Schmerz darüber zutage, dass er da mit einer Frau zusammen war, die offenbar völlig ungebrochen annehmen konnte, was er zu geben hat.Ob er denn nicht gern mit ihr zusammen sei? Oder habe er nur das Gefühl, die Zunge würde ihm abbrechen oder verdorren oder ähnlich Schreckliches, wenn er mal etwas darüber äußert? Sie sei anscheinend gefühlsmäßig etwas durcheinander, vermutlich durch das sich ihm Öffnen bei nicht ganz ausreichendem Geborgenheitsgefühl, denn ihr passieren dauernd Schusseligkeiten, ihr fallen Dinge aus der Hand, sie kippe Kokosmilch aus, schmeiße ein Glas runter und gestern Abend habe eine nette junge Frau sie angerufen, ob sie im Stadtbad gewesen sei, sie habe ihre Euroscheckkarte gefunden. Das nehme langsam bedenkliche Formen an. Aber sie habe beschlossen, wenigstens ihre Ängste über Bord zu werfen. Er mache das viel klüger. Er sage, »Was passiert, passiert sowieso, das kann ich nicht ändern und ich werde es in jedem Fall überleben«. Sehr gesund, so versuche sie es jetzt auch zu machen, gelinge ganz gut bis jetzt, sie müsse nur aufpassen, dass diese Haltung keine Distanz erzeugt. Für seine schöne und lustige Geschichte danke sie ihm. Zwar war sie weit davon entfernt, ausschließlich auf ihre Probleme fixiert zu sein, sie gehörte jedoch zu den Menschen, die immer wieder von neuem tatsächliche oder im Nachhinein entsprechend interpretierte Ereignisse der ersten Lebensjahre hervorkramen, mit denen sie offensichtlich keinen Frieden schließen können. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht die eine oder andere Begebenheit aus einer Zeit, die inzwischen ein halbes Jahrhundert zurücklag, von neuem aufs Tapet gebracht wurde. Ihm war das alles nicht neu. Er war bereits zuvor in seiner Ehe mehr als zwei Jahrzehnte mit dieser Problematik konfrontiert worden, sodass er im Laufe der Jahre einen gewissen Überdruss gegenüber bestimmten Geschichten entwickelt hatte, der einige Male in seiner Bemerkung kulminiert war, er würde sich wohl selbst bei einer fiktiven, sich über etliche Jahrhunderte erstreckenden alttestamentlichen Lebenserwartung bestimmte Klagen bis zu seinem Ende anhören müssen. Abgesehen davon glaubt er ohnehin nicht an die heilende Wirkung beständigen Wiederholens immer derselben misslichen Ereignisse, schon gar nicht auf ihn selbst. In