Silas Marner. George Eliot

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Название Silas Marner
Автор произведения George Eliot
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746756196



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doch klar, und ein Schlag nehme einem Menschen den teilweisen Gebrauch seiner Glieder, so daß er der Gemeindekasse zur Last falle, wenn er keine Kinder habe, die für ihn sorgten. Nein, nein, bei einem Schlage bleibe kein Mensch auf seinen Beinen stehen und ginge nachher weiter, als wenn nichts passiert wäre. Aber es gebe wohl so’n Ding in der Welt, daß eines Menschen Seele sich von seinem Leibe löse und aus und ein gehe, wie ein Vogel aus seinem Nest, und das sei der Grund, daß manche Leute überklug würden; in diesem Zustande nämlich gingen sie bei – der Himmel wisse bei wem in die Schule, der ihnen mehr beibrächte, als andere Leute mit ihren fünf Sinnen beim Pastor lernen könnten. Wo habe Meister Marner wohl seine Kenntnis von Kräutern her und von Zaubertränken auch, wenn er nur damit herausrücken wollte? Hans Rodney seine Geschichte könne keinen überraschen, der sich erinnere, wie Marner die arme Sally Oates kuriert und in den Schlaf gebracht habe wie ein Kind, nachdem sie unter dem Doktor seinen Händen ganze zwei Monate und darüber so fürchterlich am Herzklopfen gelitten habe als sollte ihr die Brust zerspringen. Marner könne noch andere Leute heilen, wenn er nur wolle; jedenfalls müsse man sich gut mit ihm halten, schon damit er einem nichts Böses tue.

      Dieser unbestimmten Furcht verdankte es Marner zum Teil, daß er von der Verfolgung frei blieb, die ihm sein seltsames Wesen sonst zugezogen hätte, aber noch mehr half es ihm, daß der alte Leinweber im benachbarten Dorfe grade gestorben war und daß er nun wegen seiner Geschicklichkeit den wohlhabenden Bauerfrauen in der ganzen Umgegend und selbst den sparsamen Häuslerinnen sehr gelegen kam, die am Jahresschluß immer einen kleinen Vorrat Garn zusammengesponnen hatten. Dies Gefühl von seiner Nützlichkeit genügte, um jede Abneigung und jeden Argwohn zu überwinden, den nicht etwa ein Mangel in der Güte oder Ellenzahl seines Leinens bestätigt hätte. Und so vergingen Jahre, ohne in der Ansicht der Nachbarn über Marner eine Veränderung hervorzubringen, außer daß sie sich an ihn gewöhnt hatten. Nach Verlauf von fünfzehn Jahren sagten die Leute in Raveloe von Silas Marner genau dasselbe, wie zu Anfang; sie sagten’s nicht mehr so oft, aber sie glaubten fester daran, wenn sie’s sagten. Nur einen bedeutenden Zusatz hatten die Jahre gebracht, nämlich daß sich Meister Marner ein hübsch Stück Geld gespart habe und es mit Leuten aufnehmen könne, die dicker täten als er.

      Aber während die Ansicht der Welt über ihn sich fast gleich geblieben war und seine Lebensweise äußerlich keine merkliche Änderung zeigte, hatte sein inneres Leben eine Entwicklung und eine Geschichte, wie sie jede heißblütige Natur haben muß, die in die Einsamkeit flieht oder verdammt wird. Sein früheres Leben hatte er in der Anregung, der geistigen Tätigkeit und der engen Verbrüderung einer kleinen religiösen Sekte hingebracht, wo auch der ärmste Laie sich durch die Gabe der Rede auszeichnen kann und wenigstens das Gewicht ausübt, bei der Regierung seines Gemeinwesens eine schweigende Stimme zu haben. In der kleinen stillen Welt, die sich selbst als die Kirche kannte, welche sich in der Laternengasse versammelte, stand Marner in hohem Ansehen; er galt für einen jungen Mann von musterhaftem Lebenswandel und festem Glauben, und ein besonderes Interesse knüpfte sich an ihn, seit er in der Betstunde in eine wunderbare Starrheit und Bewußtlosigkeit gefallen war, so daß man ihn schon für tot hielt, da der Zustand länger als eine Stunde dauerte. Nach einer natürlichen Erklärung dafür zu suchen, wäre sowohl in seinen eigenen Augen wie in denen des Predigers und der andern Brüder eine eigensinnige Verschließung gegen die geistige Bedeutung gewesen, die darin liegen konnte. Silas war offenbar ein Bruder, den sich der Geist zu einem besonderen Werke auserwählt hatte, und obschon sich bei der Bemühung, diesen verborgenen Zweck zu deuten, der Mangel einer inneren Vision, die er bei diesem äußern Zufall hätte haben müssen, schwer fühlbar machte, so glaubten doch sowohl er selbst wie die andern, die Wirkung habe sich in einer vermehrten Helligkeit und Wärme gezeigt. Ein weniger ehrlicher Mensch hätte sich leicht versucht fühlen können, nachträglich eine Vision in der Form wiederkehrender Erinnerung zu schaffen, und ein weniger verständiger Mensch hätte dann selbst daran glauben können, aber Silas war sowohl verständig wie ehrlich, nur hatte bei ihm, wie bei manchen ehrlichen Leuten mit heißem Herzen, die Bildung dem Sinne für das Geheimnisvolle noch nicht seine rechten Wege gewiesen, so daß er nun auch da sich breit machte, wo Forschung und Kenntnis am Platz gewesen wäre. Von seiner Mutter hatte er einige Bekanntschaft mit heilenden Kräutern und ihrer Zubereitung ererbt – ein kleiner Vorrat von Kenntnissen, den sie ihm als ein feierliches Vermächtnis hinterlassen hatte, – aber in den letzten Jahren waren ihm Zweifel aufgestiegen, ob er auch recht tue, diese Kenntnis anzuwenden, da nach seinem Glauben kein Kraut wirksam sein konnte ohne Gebet, und Gebet helfen konnte ohne jedes Kraut, und so erschien ihm die Freude, die es ihm bis dahin gemacht hatte, über Land zu gehen und nach Fingerhut, Löwenzahn und Huflattich zu suchen, allmählich als eine Versuchung.

      Unter den Mitgliedern seiner Gemeinde war ein junger Mann, ein wenig älter als er selbst, mit dem er seit langer Zeit in so enger Freundschaft lebte, daß es unter den andern Brüdern sprichwörtlich geworden war, sie David und Jonathan zu nennen. Mit seinem wirklichen Namen hieß der Freund Wilhelm Dane, und auch er galt für ein glänzendes Beispiel jugendlicher Frömmigkeit, obschon etwas übertrieben strenge gegen schwächere Brüder und etwas verblendet von seinem eigenen Lichte, so daß er sich für weiser hielt als seine älteren Brüder und Lehrer. Aber welche Fehler auch andere an Wilhelm sehen mochten, für seinen Freund war er fehlerlos; denn Marner war eine von den bestimmbaren schüchternen Naturen, die in den Jahren der Unerfahrenheit ein befehlendes Wesen bewundern und sich an jemanden anlehnen, der ihnen widerspricht. Gegen den Ausdruck vertrauensvoller Einfalt in Marners Gesicht, den jener Mangel an scharfer Beobachtung, jener sanfte an Rehaugen erinnernde Blick, welcher großen, vorstehenden Augen eigen ist, noch erhöhte, – stach der selbstgefällige Ausdruck halbunterdrückten Stolzes sehr ab, der in den kleinen, verdrehten Augen und den zusammengekniffenen Lippen Wilhelms lauerte. Ein Lieblingsgegenstand der Unterhaltung war für die beiden Freunde die Gewißheit der Gnade; Silas gestand, er könne es nie höher bringen als zu Hoffnung mit Furcht gemischt, und hörte mit sehnsüchtiger Verwunderung zu, wenn Wilhelm erklärte, seine Gewißheit stehe unerschütterlich fest, seit er in der Zeit seiner Bekehrung im Traume die Worte: »berufen und auserwählt« ganz allein auf einem weißen Blatte in der offenen Bibel habe stehen sehen. Solche Unterredungen haben schon manche Weber mit blassen Gesichtern beschäftigt, deren ungebildete Seelen kleinen, halbflüggen Vögeln glichen, welche einsam und verlassen in der Dämmerung flattern.

      Dieser Freundschaft mit Wilhelm hatte es, wie der arglose Silas meinte, keinen Eintrag getan, daß er ein noch innigeres Verhältnis einging. Seit einigen Monaten war er mit einem jungen Dienstmädchen verlobt, und sie warteten nur noch auf einen kleinen Zuwachs ihrer beiderseitigen Ersparnisse, um sich zu heiraten, und es war ihm eine große Freude, daß Sarah bei ihren sonntäglichen Zusammenkünften gegen Wilhelms Gesellschaft nichts einzuwenden hatte. Um diese Zeit war es, daß Silas in der Betstunde in Ohnmacht fiel, und unter den verschiedenen Fragen und teilnehmenden Äußerungen der Brüder stand die Erklärung, welche Wilhelm der Sache gab, ganz allein mit der allgemeinen Teilnahme in schneidendem Widerspruch, die sich für einen so besonders begnadeten Bruder kundgab. Er bemerkte, dieser Anfall scheine ihm mehr eine Heimsuchung des Teufels als ein Beweis göttlicher Gnade, und er warnte seinen Freund, er möge sich wohl vorsehen, ob er auch was böses auf dem Herzen habe. Silas hielt sich verpflichtet, Zurechtweisung und Ermahnung von einem Bruder anzunehmen, und war über die Zweifel des Freundes nicht entrüstet, sondern nur betrübt; zugleich bemerkte er bald darauf mit einiger Besorgnis, daß Sarah in ihrem Benehmen gegen ihn in ein seltsames Schwanken geriet, indem sie sich bald bemühte, ihm noch größere Achtung zu bezeigen, und bald unwillkürlich verriet, daß sie eine gewisse Abneigung gegen ihn empfand. Er fragte sie, ob sie das Verhältnis abzubrechen wünsche, aber das verneinte sie; ihre Verlobung war der Gemeine bekannt und in den Betstunden hatte man Fürbitte für sie getan; sie konnte nicht abgebrochen werden, ohne daß strenge Rechenschaft gefordert wäre, und Sarah vermochte keinen Grund anzugeben, den die Gemeinde gutgeheißen hätte. Um diese Zeit wurde einer der Vorsteher gefährlich krank, und da er ein kinderloser Wittwer war, so pflegten ihn einige von den jüngern Brüdern und Schwestern. Silas teilte sich oft mit Wilhelm in die Nachtwachen, so daß sie einander um zwei Uhr ablösten. Der alte Mann schien wieder auf dem Wege zur Genesung, als Silas eines Nachts, wo er am Bette wachte, plötzlich bemerkte, sein gewöhnlich so hörbarer Atem gehe nicht mehr. Das Licht war tief herabgebrannt und er mußte es in die Höhe heben, um das Gesicht des Kranken deutlich zu sehen. Sofort erkannte er, der