Unvergessene Jahre. Helmut Lauschke

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Der Apotheker: “Das sind schon komische Zustände, dass sich ein Arzt für einen Patienten, auch wenn er ein Rentner ist, keine Zeit nimmt.” Alfred Lehmann: “Der Arzt ließ durch die Sprechstundenhilfe sagen, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, obwohl die letzten Aufnahmen zwei Jahre alt sind, und dass meiner Wirbelsäule auch durch einen Spezialisten nicht mehr zu helfen sei. Ich müsse die Rückenschmerzen mit Schmerztabletten unter Kontrolle halten.” Apotheker Traunicht machte ein ernstes Gesicht, als wollte er sich für das schlechte Verhalten des Arztes entschuldigen: “Ich sage ihnen, unser Gesundheitssystem ist wie das ganze System mit dem guten Namen Sozialismus durch und durch verrottet. Das kann einfach nicht gut gehen. Das sage ich ihnen in aller Offenheit.”

      Alfred Lehmann steckte den kleinen Plastikbehälter in die linke Manteltasche und verließ die Apotheke. Er machte sich auf den Heimweg zu seiner Dachwohnung im Altbau mit dem bröckelnden Grauputz am Schleusenweg 3. Er musste sich anstrengen, die schmale Treppe mit den muldig ausgetretenen Stufenplanken bis obenhin zu steigen. Der Rücken machte ihm starke Schmerzen, die in beide Lenden ausstrahlten und die Rückenmuskeln verspannten. Er zog den nassen grauen Mantel mit Mühe aus und hängte ihn an den Haken im kleinen Flur. Die abgegriffene schwarze Baskenmütze war noch auf dem Kopf, als Alfred Lehmann in der kleinen Mansardenküche ein Glas mit chlorrüchigem Leitungswasser füllte, zwei Schmerztabletten in den Mund steckte und mit dem Wasser aus dem Glas runterspülte. Er setzte sich an den kleinen Tisch im Wohnzimmer und stützte die Ellenbogen fest auf die Tischplatte, um die Wirbelsäule zu strecken, wobei er eine leichte Schmerzlinderung spürte. Der Spaziergang hatte ihn doch erschöpft, dass er nach einigen Minuten Ellenbogenstütze am Esstisch sich aufs Bett legte, wo ihm die Baskenmütze vom Kopf rutschte und er schließlich dem Schlaf der Erschöpfung verfiel. Es klingelte mehrere Male, bis Alfred Lehmann Stunden später erwachte. Kurt stand vor der Tür, was den Vater erstaunte nach Jahren ausgebliebener Besuche seines jüngeren Sohnes. Auch hatte Kurt dem Vater nur selten einen Brief geschickt, und das nicht xu jedem Geburtstag oder jeder Weihnacht. Kurt hängte seinen trockenen Uniformmantel eines Fregattenkapitäns der Volksarmee neben Vaters klammen grauen Mantel an den Haken und setzte sich an den kleinen Esstisch im beengten Wohnzimmer. Der Vater sah kurz aus dem Fenster, bevor er es schloss, und sah den schwarzen Volvo, den Wagen der gehobenen Luxusklasse für die hohen Offiziere und Funktionäre, unten vor dem Haus parken. Der Nieselregen dauerte an. Er fragte den Sohn, ob er allein gekommen sei, worauf Kurt sagte, dass der Fahrer im Wagen warten könne. Darauf setzte sich der Vater zum Sohn an den Esstisch.

      Alfred Lehmann schaute in das Gesicht des Sohnes und bemerkte, dass das Gesicht nicht nur älter geworden war, sondern auch die frühen Sorgenfalten bekommen hatte, die kommen, wenn die Verantwortung mit einer besonderen Herausforderung verbunden ist, oder wenn der Berufsalltag über die Normen der Routine erheblich hinausgeht. “Wie geht es dir? Du hast dich lange nicht blicken lassen.” Das waren die beiden Einstiegssätze des Vaters an den Sohn, um das Gespräch zu eröffnen. Kurt schaute in das schmerzgeplagte grau-fahle Gesicht des Vaters und suchte nach einer passenden Entschuldigung, die er nicht fand, weil es keine Entschuldigung gibt, den Vater solange weder besucht noch ihm geschrieben zu haben, obwohl er vom angegriffenen Zustand des Vaters wusste. Kurt hatte sich zu schämen, dass er den Vater auch in materieller Weise vernachlässigt hatte, sah er doch die beengten, ja erbärmlichen Verhältnisse, in denen der Vater lebte und mit der kleinen Rente zu leben hatte. Der Vater las es in den Augen des Sohnes, dass er sich nicht wohl fühlte, weder mit ihm am nackten kleinen Esstisch in der Mansardenwohnung noch im Allgemeinen. “Wie geht es dir? Was führt dich her? Du weißt, dass dein Besuch den großen Seltenheitswert hat.” Mit diesen Sätzen wollte Alfred Lehmann dem Sohn auf die Sprünge helfen. Kurt musste einige Denkkurven genommen haben, als er von einer ganz anderen Ecke, als es der Vater erwartet hatte, zu sprechen begann: “Ich glaube, wir haben Probleme”, sagte Kurt. “Wie meinst du das?”, fragte der Vater. Kurt: “Das System wackelt.” Vater: “Ach so meinst du das.” Kurt: “Die Sicherheitsmaßnahmen sind drastisch angezogen worden. Die Seepatrouillen wurden verdoppelt und verschärft.” Vater: “Was heißt verschärft?” Kurt: “Mit Schießbefehl.” Vater: “Au Backe! Auf wen soll denn geschossen werden?” Kurt: “Auf jeden und alles, was nach Republikflucht aussieht und auf den dritten Warnschuss nicht reagiert.” Vater: “Dann schießen die ja auf die eigene Republik, ich meine auf die Bürger dieser Republik.” Kurt: “So kannst du es auch sehen. Die Situation hat sich zugespitzt. So ernst war es noch nie gewesen.” Vater: “Ich gebe dir Recht, dass unter diesen verschärften Gesichtspunkten das System wackelt. Wenn die eigenen Leute das System zerschießen, dann gerät die Republik ganz aus den Fugen. Dann ist das Ende auch nicht mehr weit.” Kurt: “So pessimistisch sollst du das wiederum nicht sehen. Ich denke, dass die Sicherungsvorkehrung dem Schutz der Republik dienen soll.” Vater: “Das siehst nur du so. Ich sehe es anders. Die Polit-Aristokratie hat das Volk ausgemolken bis zum letzten Strich und Faden. Das System mit einer guten Ideologie ist ausgehöhlt und am Ende. Der sozialistische Staat ist unter seiner schmarotzenden Obrigkeit verrottet. Die Menschen sind unzufrieden und fühlen sich betrogen. Sie haben vom Juni-Aufstand gelernt, bei dem Ulbricht im russischen T-34 saß und zusah, wie auf deutsche Arbeiter im Arbeiter- und Bauernstaat geschossen wurde. Das wollen die Menschen dieser Republik nicht noch einmal erleben. Deshalb verlassen sie diesen abgewirtschafteten Staat enttäuscht und verbittert, der längst in den Krämpfen der Agonie liegt. Die Menschen trauen dem ZK nichts Gutes mehr zu und fürchten eine Wiederholung des Ulbricht’schen Verrats am Volk mit Panzergranaten.” Kurt: “Du malst ja die Apokalypse an die Wand.” Vater: “Ich male sie nicht an die Wand. Wir leben in der sozialistischen Apokalypse. Oder lebst du auf einem anderen Stern?” Kurt: “Die Präambel des Befehls lautet jedenfalls: Rettet die sozialistische Republik.” Vater: “Ich habe dich für intelligenter gehalten. Wie willst du diese Republik retten, wenn du auf seine Menschen schießt? Diese Präambel ist nicht mehr als eine leere, abgedroschene und verlogene Floskel.” Kurt: “Dann gibst du der Republik nur eine geringe Chance.” Vater: “Ich gebe einer abgewirtschafteten Republik überhaupt keine Chance. Sie ist am Ende und wie ich sagte, sie liegt in den letzten Krämpfen der Agonie.”

      Alfred Lehmann brühte einen Tee in der kleinen Küche auf und stellte zwei Tassen, die Zuckerdose und eine weitere Tasse halbvoll mit Trockenmilch auf den kleinen Esstisch. Er legte zwei Blech-Teelöffel dazu und füllte die Tassen. Kurt fragte den Vater nach seinem Rücken, und der Vater erzählte, dass er beim Arzt gewesen sei, der meinte, dass an der Wirbelsäule nichts mehr zu machen sei. “Hat dich denn der Arzt untersucht?”, fragte Kurt. Vater: “Welcher Arzt untersucht in dieser Republik schon einen Rentner?” Kurt: “Das verstehe ich nicht.” Vater: “Der war angeblich beschäftigt. So richtete ich der Sprechstundenhilfe aus, sie soll den Arzt fragen, ob wegen der zunehmenden Schmerzen neue Röntgenaufnahmen gemacht werden sollten, weil die alten Aufnahmen mehr als zwei Jahre zurückliegen, und ob er mich zu einem Spezialisten überweisen würde.” Kurt: “Und…” Vater: “Ich wartete eine längere Zeit im leeren Wartezimmer auf das Rezept für die Schmerztabletten. Die Sprechstundenhilfe kam aus dem Arztzimmer zurück und setzte sich hinter ihren schmalen Tisch und rief mich aus dem Wartezimmer mit den Worten: ‘Hier ist ihr Rezept.’ Dann sagte sie, dass sie dem Arzt meine Fragen weitergegeben habe, der meinte, dass er neue Röntgenaufnahmen nicht für nötig halte, da an meiner Wirbelsäule mit einem Wunder nicht zu rechnen sei. Ich solle die Schmerzen mit den Tabletten unter Kontrolle halten. Von einem Spezialisten hielt der Arzt nichts, jedenfalls sagte die Sprechstundenhilfe kein Wort, als sie mir das Rezept mit einem ausdruckslosen Gesicht und den Worten gab, dass sie mehr für mich nicht tun könne.” Kurt schwieg mit einem bekümmerten Gesicht. Er legte dem Vater ein paar Banknoten auf den Tisch und stand auf, ohne die Tasse leer getrunken zu haben. Alfred Lehmann sah vom kleinen Esstisch im Wohnzimmer zu, wie Kurt im engen Flur den Kapitänsmantel mit den Worten anzog: “Das ist schon eine Sauerei. Eine Moral gibt es wohl bei den Ärzten auch nicht mehr.”

      Die Schmerztabletten halfen immer weniger, obwohl Alfred Lehmann schon die doppelte Dosis schluckte. Immer häufiger blieben die Nächte schlaflos, teils wegen der Gedanken an die zerfallende Republik mit dem Untergang der sozialistischen ‘Sonne’, teils wegen der apokalyptischen Träume, die sich dem Gedankenwirrwarr anschlossen und pharmakologisch durch die Tabletten weiter ‘angefeuert’ wurden und dann ausuferten, wenn sie ihn in ein brüllend-schäumendes Meer der Ausweglosigkeit