Название | Malverde |
---|---|
Автор произведения | Brigitte Brandl |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847636304 |
Die Maschine schwebt in einer weiten Rechtskurve ein, bedrohlich schräg. Immer wieder scheint sie kurz davor, mit der Tragfläche die Berge zu streifen. Dann, als nähme sie Anlauf, zielt sie auf die Stadt. Nun kann man die Häuser erkennen. Der braunrote Brei löst sich auf, und man sieht das Schachbrett aus Straßen, alle angeordnet von Nord nach Süd und von Ost nach West, kleine Vorortgassen und breite Avenidas, die ins Stadtzentrum führen. Gärtchen werden sichtbar, kleine Parks und begrünte Plätze. Die Hochhäuser haben aus dieser Perspektive ihre Bedrohlichkeit verloren, und was man vorher noch für einen in der Sonne schimmernden See gehalten hatte, entpuppt sich nun als eines der riesigen, mit Kunststoffplanen überzogenen Schnittblumenfelder, die überall am Stadtrand liegen. Man sieht mittlerweile auch deutlich die Masten der Seilbahn hinauf nach Monserrate, Bogotás berühmtem Ausflugsziel. Das weiße Kloster thront dort mit seinem spitzen Turm über der Stadt wie eine päpstliche Mitra. Der Flughafen ist sichtbar, obwohl noch recht weit entfernt, und er scheint auf einem grünen Teppich zu liegen, durchzogen vom grauen Muster der beiden Pisten. Das Flugzeug legt sich erneut auf die Seite, diesmal nach links abdrehend, und steuert schließlich auf die Landebahn zu. Es liegt an den Winden, heißt es, dass eine zusätzliche Kurve geflogen werden muss, sonst wäre die Gefahr zu groß, dass die Maschine vor dem Aufsetzen von heftigen Böen erfasst würde.
Der Flughafen ist klein für eine Stadt mit über 6 Millionen Einwohnern. Auch Piet hatte sich bei seiner ersten Ankunft damals etwas Vergleichbares vorgestellt: La Guardia, Heathrow oder Charles de Gaulle, aber der Flughafen der kolumbianischen Hauptstadt wirkt wenig weltstädtisch.
Er stand wieder hier, auf diesem Flughafen, mit nicht halb so viel Gepäck wie beim letzten Mal, und sein Entschluss, hierher zu fliegen, kam ihm auf einmal wie ein törichtes Hirngespinst vor. Bei seiner Abreise aus Deutschland war er in einer seltsamen Eile gewesen, hatte sich gar nicht überlegt, was er hier wirklich wollte. Als könne er das Unfassbare noch verhindern, als läge es an seinem rechtzeitigen Eintreffen, Acacios Leben zu retten! Doch er wusste, dass er hatte herkommen müssen, und sollte es nur gewesen sein, um endgültig Abschied zu nehmen, ein paar Blumen auf Acacios Grab zu legen und Hugo, Pablo, Flor und Maria die Hand zu drücken. Er erinnerte sich, wie Henning einmal gesagt hatte, dass das Ritual des Abschieds eine gute Hilfe sei, einen Verlust zu verarbeiten, einen echten Schlussstrich zu ziehen. Sei es, in dem man ein Foto zerriss oder persönliche Dinge bewusst wegwarf, die eine Verbindung zu dem Verlorenen hatten, oder indem man eine Geste tat, wie die Blumen auf ein Grab zu legen. Es war ihm klar, dass es ein Abschied sein würde. Sie hatten ihn bereits begraben. Und wenn Hugo nicht ein so sentimentaler, alter Esel wäre, hätte Piet es vermutlich noch nicht einmal erfahren!
Drei große Maschinen waren kurz hintereinander gelandet. Die Reisenden bewegten sich in Richtung Ausgang, beladen mit ihren Koffern, Taschen und Rucksäcken. Piet ließ sich treiben mit der Menge, erschöpft von dem langen Flug und geschwächt von der Trauer und der Einsamkeit, die er spürte, seit er Deutschland verlassen hatte. Das Stimmengewirr um ihn herum machte ihn nervös. Es war noch ein langer Weg durch das Ankunftsterminal, bis sich schließlich drsaußen die Menschenmenge in ihre Wege zerstreuen würde. Ihm war übel. Ihm war schon den ganzen Flug über übel gewesen. Jedes Mal, wenn er versucht hatte, zu schlafen, sah er den Wagen sich vor ihm überschlagen. Er suchte Acacios Gestalt in dem tobenden Metallkäfig, wollte ihm ins Gesicht sehen, als gäbe dies den Beweis dafür, dass Acacio tatsächlich in dem Unglücksfahrzeug gesessen hatte und in ihm gestorben war. Aber er hatte Acacios Gesicht nie gesehen. Nicht mal seinen Körper.
Am Ausgang angekommen drängte er sich durch die Massen von Leuten, die ihre Angehörigen, Freunde, Geschäftspartner, Liebhaber und Feriengäste abholten, Studenten mit bunten Rucksäcken, Frauen mit kreischenden Kindern auf dem Arm, Männer mit angestrengtem oder gelangweiltem Blick, die Selbstgedrehte im Mundwinkel, obwohl sie längst nicht mehr brannte. Piet schob die Wartenden zur Seite; er sah sie nicht an, so als wolle er etwas verbergen, als sei sein Grund, hier zu sein, unwichtig im Vergleich zu dem der anderen. Ihn würde auch niemand abholen, man erwartete ihn nicht einmal. Er schluckte den Kloß im Hals hinunter und wischte sich übers Gesicht. „Henning,“ dachte er, „wie fein sind deine Theorien! Wie gut tun sie, wenn man sie nicht in Taten umsetzen muss!“ Einen Augenblick überlegte er, mit dem Bus weiter zu fahren. So hätte er noch viele Stunden Zeit, seinen Gedanken nach zu hängen und vielleicht doch endlich mal, mit dem Kopf gegen das Busfenster gelehnt, zu heulen.
„Es dauert nicht lange, Henning, hatte er damals gesagt. Und er hatte noch keine Woche vorher vor allen verkündet, dass er es leid sei, Keimkulturen mit Wirkstoffen zu beschießen und hochgelobt zu werden dafür, dass daraus irgendwann ein Medikament würde.
„Henning,“ hatte er gesagt, „ich bin Mediziner, aber ich habe bestenfalls im Klinikum Infusionen gelegt, aber noch nie einen kranken Menschen gesund gemacht.“
Wo war dieser Wunsch auf einmal hergekommen? Es hatte ihn doch noch nie etwas gestört an seiner Arbeit, und er war froh gewesen, als die Zeit in der Klinik vorbei war! Auch Silvia hatte sich zwar gefreut darüber, dass Piet nun erstmals auch so etwas wie Mut bewies, aber sie war nicht gerade begeistert gewesen von der Idee, dass er sich so kurz vor der Hochzeit zu diesem Himmelfahrtskommando im kolumbianischen Dschungel melden wollte. Piet hatte solche Wünsche noch nie vorher geäußert!
„Ich muss das tun, Silvia,“ hatte Piet beteuert, „ich brauche das jetzt.“
Er brauchte das.... Im Nachhinein war ihm klar, was ihn vor einem halben Jahr wirklich getrieben hatte! Warum war ihm vorher nicht bewusst geworden, dass er Silvia gar nicht heiraten wollte? Warum dieser Vorwand? Vielleicht hätte er Henning fragen sollen, der war Psychologe.
Piet schulterte seinen Rucksack und trat auf die Straße. Gegenüber des Flughafens gab es einige Autovermietungen, und er würde noch vor dem Einbruch der Dunkelheit in Casillas ankommen. Er hatte das Gelände der Autovermietung noch nicht betreten, da sah er den Wagen stehen: den Buick Convertible aus den Siebzigern, ockergelb, mit blauen und roten Streifen an den Seiten. Lober blieb stehen, und auf einmal wollte sein Herz seinen Kehlkopf aus dem Hals drücken. Er umklammerte die Trageriemen des Rucksacks und ging langsam zu dem Buick. Vorsichtig führte er seine Hand über den Kühler, ungläubig, als wolle er sich vergewissern, dass er jetzt nicht vor Trauer und Erschöpfung einer Halluzination aufsaß. Doch der Wagen stand echt und wahrhaftig vor ihm! Wie konnte das sein? Hugo hatte am Telefon gesagt, der Wagen habe sich zweimal überschlagen, und jetzt stand er hier und hatte noch nicht mal eine Schramme! Piets Beine zitterten. Er stützte sich auf das Auto und stierte in den Innenraum.
„Kann ich ihnen helfen, Señor?“ hörte er eine Stimme hinter sich. Erschrocken fuhr er herum und sah in das freundliche Gesicht eines kleinen, dicklichen Mannes mit Baskenmütze, der sich seine Hände an einem Tuch abwischte und hastig die halbgerauchte Zigarette auf dem Boden zertrat.
„Suchen Sie einen Wagen?“
Lober schluckte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er den Schweiß wegwischen und nicht die Tränen. „Ja, dieser hier ist sehr schön!“
„Perdoneme,.“ Der Mann verzog verstört das Gesicht. „Der Wagen ist für meinen Sohn. Er wird nächste Woche fünfundzwanzig, und ich habe lange gespart, um einen Wagen für ihn zu kaufen!“ Der Mann lächelte breit und schien gar nicht zu verstehen, warum der fein gekleidete junge Ausländer seine Freude und seinen Stolz gar nicht teilte.
„Haben sie ihn in Casillas del Bosque gekauft?“ fragte