Hau ab! Flüchtlingskind!. Birte Pröttel

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Название Hau ab! Flüchtlingskind!
Автор произведения Birte Pröttel
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783847621478



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      Und dann frage ich erst mal: "Wo waren wir denn das letzte Mal stehen geblieben?" und Max knufft mich ungeduldig und vergisst vor Aufregung zu flüstern:"Immer vergisst du alles! Es war doch, wo die Bomben so geknallt haben ...“ Ja und dann erzähle ich. Ich erzähle den Kindern, wie ich mich schämte ein Flüchtlingskind zu sein, wie peinlich es mir war, arm zu sein, wie weh es mir tat, ausgelacht zu werden, weil ich keine richtige Wolle für den Handarbeitsunterricht hatte. Ich erzähle, wie ich zitternd vor Kälte im Flüchtlingszug saß, aber auch wie schön es an der Ostsee ist. Ich berichte, wie lecker die knallrote dänische Wurst schmeckte und wie stolz ich auf unsere ersten „gekauften“ Sachen war. Und wie dann alles doch ein Glück war, denn ohne Krieg und Vertreibung hätte ich ihren Opa nicht kennengelernt und sie wären jetzt nicht meine geliebten Enkelkinder.

      … dein Vater ist im Krieg...

      Am nächsten Sonntagmorgen zeige ich meinen Enkeln das Foto ihres Urgroßvaters. Ich fand es beim Rumkramen. Aufgenommen im August 1939. Mein Vater wurde einge­zogen zum Kriegsdienst, ob­wohl noch kein Krieg war. Als Abschiedsgeschenk hinter­lässt er mich als kleine Kaf­feebohne in meiner Mutter. Er packt seinen Stahlhelm, das Ge­wehr, die Langschäfter, seine Brotbüch­se, eine Militär-Ta­sche und klemmt einen Gar­tenstuhl unter den Arm. Wofür er im Krieg einen Gartenstuhl gebraucht hat, ist mir bis heu­te ein Rätsel. Vielleicht gab es im Kasernenhof eine große Kastanie, unter der sie einen Biergarten einrichteten und jeder musste was mitbringen? Mein Vater sieht ja ziemlich fröhlich aus, wahrscheinlich ist er froh, wegzukommen.

       Vater zieht in den Krieg

      … Mutter ist im Pommernland …

      Als ich klein war, woll­te ich alles andere, nur nicht BIRTE heißen. Ich woll­te nicht aus der Reihe tanzen. Und wenn ich meinen Namen buchstabieren musste, nannte man mich trotzdem Berta und wurde ich wütend, denn das war der gehasste Spitzna­me, den mir die Brüder gaben. Ich fand es jedenfalls blöd, Birte zu heißen.

      Nun muss ein Kind einen Namen haben und beim Standesamt angemel­det und registriert werden, sonst exis­tiert es überhaupt nicht, auch wenn es noch so schreit. Meine Großmutter übernahm das Kommando zu Hause. Vater musste ja den Erbfeind in Frankreich besiegen und von dort Päckchen schicken. Darin waren für mich und meinen großen Bruder Spielsachen und für Mutter Champagner, Foie gras, Froschschenkel, geräucherte Gänsebrust und allerhand Leckereien, die meiner Mutter die Trennung von ihrem Gemahl versüßen sollten.

      Mutter, beschließt mir drei Vornamen zu geben: Birte, Hanna (nach Mutter) und Martine nach der Urgroßmutter. Denn Mutter war zeitlebens beleidigt, dass man ihr nur einen Vornamen gegeben hatte. Sie empfand das als Lieblosigkeit ihrer Eltern, schließlich hatte damals jeder mehrere Vornamen und je vornehmer er war, umso mehr. Um das wieder gut zu machen, bekam ich drei Vornamen und Birte soll der Rufname werden.

      Großmutter zieht sich ihr feines kamelhaarfarbiges Kostüm an, setzt den eleganten dunkelbraunen Filzhut mit der wippenden Fasanenfeder auf und geht zum Standesamt und sagt, dass das neue Baby – also ich – Birthe heißen solle.

      „Dieser Name steht nicht auf der Liste deutscher Vornamen.“ sagt die strenge Beamtin zu meiner Großmutter.

      „Das ist ein dänischer Name und meine Enkelin soll so heißen.“ antwor­tet meine resolute Großmutter, sie ist nämlich in Dänemark geboren. Dabei trommelt sie ungeduldig mit den frisch manikürten Fingern auf dem Tisch mit den vielen Akten. Deutschland und sein „Herr Hitler“ konnten ihr überhaupt nicht imponie­ren.

      „Wir sind in Deutschland und dieser Name ist nicht erlaubt, er steht nicht auf der offiziellen Namensliste!“

      „So, dann zeigen sie mir mal, ob Holdine in der Liste steht. Denn euer Herr Goebbels hat eine Tochter, die so heißt!“

      Die Standesbeamtin guckte ängstlich in der offiziellen deutschen Namenliste nach und siehe da, Holdine stand nicht drin.

      „Wenn Herr Goebbels seine Tochter Holdine nennen kann, darf meine En­kelin auch Birthe heißen!“

      Die Beamtin machte ihren Rücken noch runder als er schon war und schaut verlegen von unten hoch zu meiner frischgebackenen Großmutter, die sich aufrecht, als hätte sie ein Lineal verschluckt vor der Beamtin aufplustert. Sie wirft den Kopf in den Nacken, wie immer, wenn etwas nicht nach ihrem Willen geht und der imposante Busen wogt drohend: „Na???“

      Die Beamtin drugst rum, stottert und dann fiel ihr ein: „Aber, dann kann das Kind aber nur Birthe ohne TH heißen.“

      Großmutter strahlt: Sieg auf der ganzen Linie!

      Großmutter schreitet wie eine Walküre in der Wagneroper aus dem Amt.

      Und so kam es, dass ich Birte, Hanna, Martine heiße.

      Als wir nach dem Krieg im kleinen Schwarzwalddorf als Flüchtlinge ein­quartiert wurden, haben die Leute um meinen Namen und den meiner Ge­schwister ein riesiges Theater gemacht. „Die bilden sich ein, was Besseres zu sein!“ wurde über uns geklatscht.

      … Pommernland ist abgebrannt...

      Ich kann den Ton von Sirenen nicht leiden. Auch ein Krankenwagen mit Martins-Horn­geheul lässt meinen Adrenalinspiegel und den Blutdruck in die Höhe sausen. Gänsehaut läuft mir den Nacken runter und die Ohren schreien Alarm. Wenn Sirenen heulen, ra­sen Gespenster, böse Geister und alle erdenkli­chen Unholde durch die Lüfte und im Auf- und Abschwellen des grauslichen Lärms gefriert mir das Blut in den Adern, auch heute noch. Warum ist dieses Marterinstrument nach dem lockenden, säuselnden Gesang der Sirenen in der Mythologie benannt? Oder waren die Sirenen gar nicht so zarte Wesen? Aber das ist wohl ein Fall für Historiker oder Altphilologen.

      Als ich klein war, bedeutet dieses Getöse das Ende süßer Träume und des nächtlichen Schlafs. Mutter reißt uns gnadenlos aus den kuschelwarmen Betten und wir müssen, so schnell uns unsere Kinderbeine tragen, in den Luft­schutzkeller. Wenn der „Volksempfänger“ eine Bombennacht vorhersagt, legt Mutter uns angezogen ins Bett. Ich finde das prima, denn das abendliche Wasch-, Zahnputz- und Umziehritual fällt dann weitgehend flach.

      Unser Luftschutzkeller ist im Nachbarhaus. Die Sirenen heulen und wir stolpern und torkeln wie fernge­steuert schlaftrunken die Treppen runter, durch den Vor- in den Nachbargarten, durch die kleine Kellertür ab in den Luftschutz­bunker.

      Hier ist die Luft nicht geschützt, wie man von dem Namen „Luftschutzkel­ler“ erwarten könnte. Es miefelt gruselig nach Angstschweiß, ungewaschenen Haaren, feuchten Wolldecken und was sonst noch Menschen in der Nacht aus­dünsten. Ein langer, unbelüfteter, spärlich beleuchteter Raum mit Bänken an den Wänden. Wie Sardinen in der Büchse sind wir hier eingefüllt.

      Jede Familie hat ihren Stammplatz. Mein großer Bruder und ich hocken mit angezoge­nen Beinen auf der Bank. Mutter schaukelt das Baby, meinen klei­nen Bruder, an ihrer tröstenden Brust. Eine schwarze Locke fällt dem Baby ins Gesicht und es nuckelt glücklich an der Strähne. Mutter lächelt uns zu und wickelt uns in unsere warmen Ku­scheldecken. Ich mag es, wenn sie lächelt, dann hat sie immer ein kleines Grübchen und sieht nicht so streng aus. Dann sitzen wir da, dösen und warten. Warten, bis die Sirenen Entwarnung heulen. Die Erwachsenen flüsterten miteinander. Ein alter Mann schnarcht und wir schauen fasziniert auf ihn. Nach jedem Schnarcher sinkt sein Kopf weiter nach vorne, bis er beinahe umkippt. Dann schubst ihn die Frau neben ihn und flüstert: „Opa, schlaf nicht ein!“

      Die nächtlichen Besuche im Luftschutzkeller gehören für uns zum tägli­chen Leben. Schulkinder freuen sich, dass sie nach Bombennächten freihaben.

      Unser Haus war ein Mehrfamilienhaus, daneben standen noch zwei oder drei ganz gleiche Häuser. Es waren Gebäude der Reichsbahn und wurden von ihren Mitarbeitern bewohnt. Ob nun alle zusammen einen Luftschutzkeller be­nützten, das weiß ich nicht, mir jedenfalls kam es vor, als hätte sich das ganze Stadtviertel