Was zu beweisen wäre. Jürgen Heller

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Название Was zu beweisen wäre
Автор произведения Jürgen Heller
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847679462



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Eckschrank, auch ein Prachtstück von Tante Giuliana, und schenkt sich einen dreifachen Ramazotti ein.

      * * *

       Dienstag, 29. März 1955

       Die Einladung bei Prof. R.v.C. war nicht ganz so erfolgreich für mich, wie ich es erhofft hatte. Er hat aufgrund seiner Vergangenheit nicht mehr den Einfluss an der Uni, wenn ich es recht verstanden habe. Irgendwas Politisches. Er war wohl mal ein hohes Tier im DuÖAV und wurde nach dem Krieg wegen seiner angeblichen Nähe zu den Nazis mit Vorlesungsverbot belegt. Er hat mir aber die ganze Zeit zu erklären versucht, dass der Alpenverein ohnehin stramm nationalistisch orientiert war, jedenfalls die entscheidenden Sektionen. Der sogenannte Arierparagraph wurde schon weit vor der Machtergreifung durch Hitler in die Satzungen aufgenommen, usw. Ist mir auch völlig egal. Mich interessiert nur mein Studium. Er versprach mir, dass er einige Kontakte aufnehmen wolle. Ich würde von ihm hören. Bin gespannt. Allzu lange kann ich nicht warten.

      * * *

      5

      Bruno Hallstein ist gerade in Tegel ausgestiegen und auf dem Weg zu seiner Wohnung, als sein handy "in the mood" spielt. Es ist Carla. Das Gespräch dauert weniger als zwei Minuten und endet damit, dass er sauer ist. Sie hat ihre Verabredung abgesagt. Krank.

       Na gut, wenn sie dafür auf den Film verzichtet, muss sie wirklich krank sein. Aber warum will sie mich nicht sehen? Ich könnte mich doch um sie kümmern, vielleicht etwas kochen oder einfach nur da sein.

      Sie blockt ab, vertröstet ihn auf die nächsten Tage, wird sich melden. Er findet nicht mal Gelegenheit, gute Besserung zu wünschen.

       Dann eben nicht. Blöde grüne Seife...

      Er steckt das Handy weg, läuft aber nun nicht mehr zu seiner Wohnung, sondern kehrt um in Richtung Seepromenade. Die Sonne meint es für die Uhrzeit immer noch gut und er will in die "Mühle." Da kann er vielleicht noch draußen sitzen. Er geht hinüber auf die andere Straßenseite und läuft Alt-Tegel hinunter. Links und rechts wechseln sich Eisdielen mit Restaurants ab, hin und wieder ein Geschäft dazwischen. Obwohl es noch früh im Jahr ist, sitzen erstaunlich viele Menschen draußen. So etwas gab es früher nicht. Er ist in Tegel aufgewachsen und kann sich nicht an derart viele Straßencafés erinnern. Schon eher unten am Seeufer. Da war Sonntags sogar oft Tanz und es gab Cafés, wo man den eigenen Kuchen mitbringen durfte, nur der Kaffee musste bestellt werden. Er passiert die alte Dorfaue mit der Kirche und dem Kirchplatz davor. Hier sind seine Schwester und er getauft und konfirmiert worden. Die kleinen Kopfsteinpflasterstraßen sind vollgestellt mit parkenden Autos. Sie verhunzen das eigentlich wunderschöne Bild, das so gar nicht zu der großen Stadt Berlin passen will. Deshalb liebt er diesen Stadtteil auch so sehr. Er kennt keinen schöneren. Viele Menschen strömen ihm entgegen, wohl Hunderte, die wahrscheinlich allesamt mit den Fahrgastschiffen unterwegs waren und jetzt zur U-Bahn wollen.

      Normalerweise starten die weißen Flotten erstmals zu Ostern. Das wäre in drei Wochen, aber durch den vorzeitigen Frühlingseinbruch wollen sich die Reeder das Geschäft nicht entgehen lassen und sind teilweise schon jetzt unterwegs. Es ist Freitag, 16:30 Uhr und durch das schöne Wetter noch sehr hell. Er ist an der "Mühle" angekommen, doch leider ist draußen alles besetzt. Der Wirt, ein alter Jugendfreund, hat für seine Gäste diese gasbetriebenen Heizpilze aufgestellt. Seit er die besitzt, kann sein Gastgarten sogar im Winter genutzt werden. Es sind auch nur Nichtraucher, die diese Heizkörper aus Umweltgründen wieder abschaffen wollen.

      Drinnen findet Bruno einen Platz in einer etwas abseits gelegenen Ecke. Direkt gegenüber befindet sich ein alter weinroter Kachelofen, der im Winter regelmäßig beheizt wird. Jetzt ist er kalt. Es ist schon eigenartig, denkt er, drinnen wird Energie gespart und draußen verschwendet. Sekundenlang überlegt er hinauszugehen, um zu prüfen, ob es dort eventuell wärmer ist als hier drinnen, aber er belässt es bei dem Gedanken. Die Ecke ist gemütlich und als die Kellnerin an den Tisch tritt, wird ihm schlagartig warm. Er hat sie hier noch nie gesehen. Sie ist genau das, was er jetzt braucht.

      "Haben Sie schon einen Getränkewunsch?" fragt ihn der Engel und reicht ihm eine in gelbem Leder gebundene Speisekarte.

      Immerhin fragt sie in ganzen Sätzen.

      Er bestellt einen doppelten Espresso. Sie wendet sich um und geht zum Tresen. Er blickt ihr nach, soweit es geht und genießt ihren Anblick, den kurzen grauen Rock und die dazu passenden Strümpfe in der gleichen Farbe. Gut, dass sie ihre Beine nicht in Hosen versteckt. Ihr schwingender Gang erinnert ihn an diese spindeldürren Models, die man öfter im Fernsehen sieht. Die hier ist aber nicht spindeldürr, macht eher einen athletischen Eindruck. Als sie ihm den Kaffee bringt, kann er sie auch von vorn genauer betrachten. Es gefällt ihm schon sehr, auch das, was oberhalb der Gürtellinie zu sehen ist. Die oberen drei Knöpfe ihrer schwarzen Bluse sind offen und genau da, wo sich sein Blick fokussiert, glänzt ein goldenes Kettchen mit einem Kreuz.

      "Haben Sie schon etwas gefunden, Herr Hallstein?", fragt der Engel und verzieht keine Miene.

      "Woher kennen Sie meinen Namen?"

      Bruno ist überrascht.

      Sie erklärt es ihm. Sie ist die Tochter des Wirtes, seines Freundes Harry, wohnt und studiert in München und hat Semesterferien. Er erinnert sich an ein kleines, dickliches, blondes Mädchen, dass völlig gehemmt war und ihm selbst im Beisein ihrer Mutter nicht mal die Hand geben wollte. Das ist bestimmt zwanzig Jahre her. Harry ist schon 12 Jahre geschieden, hatte von seiner Tochter lange nichts gehört, bis sie vor drei Jahren hier auftauchte, um ihren Vater zu sehen. Seitdem kommt sie regelmäßig nach Berlin aber Bruno sieht sie heute zum ersten Mal. Er hätte sie auch nicht erkannt.

      "Du hast dich aber verändert, bis auf die Haarfarbe."

       Na, da ist mir ja was ganz Schlaues eingefallen.

      "Das nenne ich Glück."

      Sie lacht und nimmt dann seine Bestellung auf, von der Tageskarte das gegrillte Lamm mit Bohnen und Röstkartoffeln. Dazu genehmigt er sich ein Glas Spätburgunder. Christine, genannt Tina, spendiert ihm noch ein Lächeln und entschwindet mit ihrem Supermodelgang. Bruno ist etwas deprimiert. Für dieses knackige Mädchen ist er einfach zu alt, könnte der Vater sein, und seine große Liebe hat ihn heute Nachmittag abblitzen lassen. Die Welt ist schlecht und ungerecht denkt er beim ersten Schluck. Das Essen kommt und er muss ein zweites Glas haben, sonst ist das nicht auszuhalten. Langsam fasst er wieder Mut, schließlich ist seine Carla die schönste und beste Frau der Welt, wenn sie es nur zuließe. Er isst sehr bedächtig und genießt das zarte Fleisch, dass auf den Punkt so gegart ist, wie er es mag. Als er den Teller leergeputzt hat, ist er mit sich und der Welt wieder einigermaßen im reinen. Es gibt eben doch ein Leben außerhalb der Geschlechterbeziehungen. Essen und Trinken als Erotikersatz.

      Er hat das dritte Glas Spätburgunder vor sich stehen, als sich Harry an seinen Tisch setzt. Die Begrüßung zwischen beiden fällt so aus, als hätten sie sich heute schon gesehen. Dabei ist Bruno bestimmt die letzten drei Wochen nicht hier gewesen und Harry verlässt sein Lokal so gut wie nie. Er ruft nach seiner Tochter.

      "Bring mir bitte auch ein Glas."

      "Lange nicht gesehen, alte Socke. Aber Deine Tochter hat dich gut vertreten, habe dich nicht vermisst."

      "Sieht ja auch besser aus als ich. Leider ist sie schon vergeben, an so einen komischen sizilianischen Kauz, studiert irgendwas mit Vulkanologie. Hängt auch ewig am Ätna rum und wertet tage- und wochenlang Daten aus. Aus meiner Sicht brotlose Kunst. Tina würde gerne mit ihm nach Italien gehen aber sie findet dort keinen geeigneten Studienplatz. Zum Glück. Bei den Mafiosi weiß man doch nie."

      Harry haut gerne solche Sprüche raus, dabei hat er jahrelang voller Überzeugung in Kreuzberg gewohnt, ohne dass er je Probleme mit Ausländern hatte. Aber bei Tina gilt eine andere Toleranzgrenze. Die will er in vertrauensvollen und zuverlässigen Händen wissen, man kann fast sagen, das hat schon was türkisches. Tina kann froh sein, das sie nicht