Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman). H. G. Wells

Читать онлайн.
Название Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)
Автор произведения H. G. Wells
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783746747682



Скачать книгу

aus mehreren Bogen bestehender, unvollendeter Brief. Ich warf einen Blick darauf und sah die Worte: »Mein lieber Arnold.« Warum um alles in der Welt hatte er mir einen Brief geschrieben? Wo er mich doch täglich sah. Ich empfand es in keiner Weise als Unrecht, mich auf seinen drehbaren Armstuhl zu setzen und den Brief zu lesen.

      Erst las ich flüchtig, bald aber mit angestrengter Aufmerksamkeit.

      »Gewisse Dinge werden am besten brieflich erörtert«, hob das Schriftstück an; »und ganz besonders Fragen, die Zahlen betreffen. Du wirst stets ein wenig ungeduldig, wenn es sich um Zahlen handelt …«

      Was sollte da kommen?

      Ich hatte den Tag zuvor zwei recht unangenehme Stunden in Lincoln’s Inn verbracht, um die Finanzierung unserer neuen Gesellschaft gegen Angriffe zu verteidigen, die mir als altmodische Verdächtigungen erschienen waren. Der alte Ferndyke (Ferndyke, Pantoufle, Hobson, Stark, Ferndyke & Ferndyke), der ein Schulkamerad meines Onkels gewesen und mütterlicherseits ein Blettsworthy war, hatte Ansichten über Graves vorgebracht, die mir die Erwiderung: »Aber Sir, das kommt ja geradezu einer Einflüsterung gleich« abzwangen. Darauf hatte er geantwortet: »Keineswegs! Es ist noch immer üblich, solche Fragen zu stellen.«

      »Im Falle meines Freundes Graves ist es überflüssig«, hatte ich gesagt, und der alte Herr hatte die Achseln gezuckt.

      Merkwürdigerweise hatte ich mir dieses Gespräch während der folgenden Nacht, in der ich ungewöhnlich schlecht schlief, etliche Male wiederholt, und im Zuge war es mir nach dem Abendbrot wieder in den Sinn gekommen. Als ich nun den nächsten Satz des Briefes las, klang es mir aufs neue deutlich in den Ohren.

      »Mein lieber Arnold«, ging der Brief weiter, »wir sind an einem toten Punkt angelangt.«

      Der Kern des Briefes war, daß wir unser Geschäft in zu großem Maßstab geplant hätten. Er wolle mir das mit allem Nachdruck klarmachen. Schließlich werde das vielleicht ganz gut sein, für den Augenblick aber bedeute es Geldverlegenheit. »Du erinnerst dich wohl, daß ich anfänglich sagte, es sei ein Zehntausend-Pfund-Unternehmen«, schrieb er. »Und das ist es.«

      Wir hatten nahezu das gesamte uns zur Verfügung stehende Geld für Ausstattung, Einrichtung, Vorausgaben, Bürobedarf und Direktorengehälter verwendet. Mit dem Einkauf des Bücherbestandes hatten wir eben erst begonnen. »Noch dazu habe ich«, hieß es in dem Brief weiter, »bis zu dem Limit, das du garantiert hast, Geld behoben.« Ich überlegte – ich hatte eintausend garantiert und das in einem außerordentlich gewundenen und langatmigen Dokument. Wir bezahlten bereits zwei Hilfskräfte, einen Laufburschen und eine Stenotypistin, die Lyulphs Korrespondenz erledigte, und hatten vorläufig offiziell mit dem Verkauf noch nicht begonnen. Wir hielten den Laden zwar offen und bedienten gelegentlich Kunden, wollten jedoch erst nach Beginn des Semesters das Geschäft in aller Form eröffnen. Zu diesem Anlaß gedachten wir, tüchtig Propaganda zu machen, was beträchtliche weitere Ausgaben bedeutete. Der größte Teil der Bücher, die wir auf Lager haben wollten, mußte erst angeschafft werden, und wir mochten noch Monate ohne Verdienst vor uns haben. Besonders in Oxford hat man stets eine Anzahl unvermeidlicher Kreditgeschäfte zu tätigen. Der junge Student kauft sehr viel, aber nicht gegen bares Geld. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, schrieb Graves, »als neues Kapital aufzunehmen und weiterzuarbeiten. Zurück können wir jetzt nicht mehr.«

      Hier brach das Schriftstück ab. Der Schreiber schien unterbrochen worden zu sein.

      Ich hielt den Brief in der Hand und starrte in die dunklen Schatten meines neuen Büros. Noch mehr Kapital? Ich hatte es, aber ich näherte mich bereits dem, was Ferndyke meine Sicherheitsgrenze nannte. Bisher hatte ich nichts weiter riskiert als eine Einschränkung meiner Lebensweise; der Vorschlag von Graves konnte leicht den Verlust der Unabhängigkeit, die mir so angenehm war, bedeuten. Im Schatten tauchte sehr lebhaft das Antlitz des alten Ferndyke auf, und ich hörte seine Frage: »Fehlt es Ihrem Freunde nicht ein wenig an – wie soll ich es nennen? – an Grundsätzen, ebenso wie auch an Erfahrung?«

      Ich betrachtete das so sehr gediegene und vornehme Büro. Es einzurichten, hatte mir viel Freude gemacht. Was aber, wenn es sich nun als zu groß und zu kostspielig für das Geschäft erweisen sollte?

      Und war Graves, mein kluger und erfinderischer Freund, vielleicht wirklich ein klein bißchen weniger solide als etwa dieser unser wunderbarer Büroschrank, der vierzigtausend Briefe zu fassen vermochte?

      Mitten in diesen Überlegungen kamen mir verschiedene Geräusche zu Bewußtsein: Über meinem Kopfe krachte es, regte sich etwas. Ich wurde mir alsbald darüber klar, daß Graves oben in seinem Schlafzimmer sein müsse. Da konnte ich ja die ganze Angelegenheit gleich mit ihm besprechen. Jawohl, ich wollte sie sofort mit ihm besprechen. Seine Wohnung hatte einen Privateingang von der Straße her, und ich ging zu der Tür, die von dem Laden in den Korridor und zur Treppe führte. Laden und Treppe waren mit ausgezeichnetem, aber teurem blauen Axminster belegt, und ich stand in dem unbeleuchteten Wohnzimmer, ehe Graves meine Anwesenheit bemerkte. Die Schlafzimmertür war ein wenig offen, und das Gas war angezündet.

      Ich war eben im Begriffe zu sprechen, als mich das Geräusch eines Kusses, ein heftiges Geknarre und ein lauter Seufzer innehalten ließen.

      Dann erklang zu meinem grenzenlosen Staunen die Stimme Olive Slaughters in Tönen, die ich nur zu gut kannte. »Ach«, seufzte sie entzückt, »wenn du nicht am allerbesten küssen kannst!«

      Dann flüsterte Graves, und es schien so etwas wie ein Ringkampf stattzufinden.

      »Laß mich!« sagte Olive Slaughter ohne Überzeugung, dann wiederholte sie schärfer: »Laß mich, sage ich dir.«

      Hier versagte meine Erinnerung für eine kleine Weile. Ich weiß nicht, welche schwarzen oder dunklen Ewigkeiten ich in den nächsten Augenblicken durchlebte. Das folgende Bild sehe ich von der Tür des Schlafzimmers aus, die ich weit aufgerissen hatte. Graves und Olive liegen auf dem Bett und starren mich an. Graves hat sich halb aufgerichtet und stützt sich auf einen Ellbogen. Er hat eine weiße Sporthose an und ein Seidenhemd, das vorne aufgeknöpft ist. Olive liegt ausgestreckt auf dem Bauch und blickt über ihre Schulter nach mir herüber, ihre Bluse ist in Unordnung und zeigt mehr von ihrem lieblichen Oberkörper, als ich jemals gesehen habe, ihr nackter Arm ruht auf seiner nackten Brust. Beide sind erhitzt und zerzaust. Erst starren mich die beiden Gesichter dumm an, dann werden sie allmählich lebendig und munter. Langsam, ganz außerordentlich langsam und den Blick immerfort auf mich gerichtet, setzen sie sich auf.

      Ich erinnere mich dunkel, daß ich mich fragte, was ich tun sollte; ich kam zu dem Schlusse, dessen entsinne ich mich deutlicher, daß ich, zunächst wenigstens, Gewalttätigkeit an den Tag zu legen hätte.

      Graves besaß guten Geschmack und hatte auf Kosten unserer Gesellschaft das Kaminsims in seinem Zimmer mit zwei alten schlanken Chianti-Flaschen geschmückt. Sie waren schwerer als ich dachte, denn er hatte sie mit Wasser angefüllt, damit sie fester stünden. Ich schleuderte ihm die eine an den Kopf, sie traf ihn, zerbrach mit einem glucksenden Laut, Wasser und Scherben fielen an ihm herunter. Die zweite verfehlte ihn und ergoß ihr Wasser auf das Bett. Dann muß ich auf der Suche nach weiteren Gegenständen, die meiner Gewalttätigkeit dienen könnten, zum Waschtische gegangen sein, denn ich erinnere mich, daß die volle Wasserkanne am Bettpfosten zerbrach und daß sich die Waschschüssel störenderweise in meiner Hand als zu leicht erwies, um wirksam verwendet zu werden. Dann scheint mein Gedächtnis noch eine Lücke aufzuweisen. Graves stand schließlich dicht vor mir, einen schmalen roten Streifen quer über der Stirn, der noch nicht zu bluten begonnen hatte. Sein Gesicht war weiß, schien zu leuchten und zeigte den Ausdruck gespannter Beobachtung. Ich erinnere mich, daß ich die Waschschüssel beinahe sorgfältig wieder hinstellte, ehe ich Hand an ihn legte. Ich war ihm an Gewicht und Muskelkraft überlegen und hatte ihn in kürzester Frist aus dem Schlafzimmer und durch das Wohnzimmer auf die Treppe hinausbefördert. Dann ging ich zu Olive zurück.

      Die Göttin meines bisherigen Daseins war verschwunden. An ihre Stelle war eine gewöhnliche junge Frau mit zerzaustem strohblondem Haar getreten, die zu besitzen ich heftig gewünscht hatte und die immer noch eine übergroße Wirkung auf meine Sinne ausübte. Sie bemühte sich, die Brosche festzustecken, die ihre Bluse am Halse zusammenhielt. Ihre Hände zitterten so