Название | Frühling im Oktober |
---|---|
Автор произведения | Sophie Lamé |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783737506243 |
Vielleicht war sie in ihrer Jugend in Paris Mannequin gewesen, und kam nun nach 60 Jahren zum ersten Mal wieder zurück. Sie war auf dem Weg zu ihrer Tochter, die sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Gerne würde sie sich heute einreden, dass sie es sich wahrlich nicht leicht gemacht hatte, damals, als sie ihr Neugeborenes in die Obhut ihrer Schwester gegeben hatte. Aber nein, so war es nicht gewesen. Viel zu beeindruckt war sie zu jener Zeit von der glitzernden Welt der Mode, den Fotografen und dem Rummel um ihre Person. Und als sie dachte, sie hätte in Romain ihre große Liebe gefunden, hatte sie seinen Liebesschwüren nur zu gerne geglaubt. Der Krieg war vorbei, das Leben schön und verheißungsvoll. Die Konsequenzen einer Nacht mit Romain – im edlen Hotelzimmer und im seidigen Bett – hatte sie nicht bedacht. Oder war es ihr egal gewesen? Sie wusste es nicht mehr. Die Schwester, selbst ungewollt kinderlos und eine treue Seele, nahm das Kind gerne an. Und seit dem Tag, als sie die Kleine in die Arme von Therèse gelegt hatte, hatte sie versucht, sie zu vergessen. Eine Zeitlang war ihr das gut gelungen, aber eines Tages hatte sich das Gewicht ihrer Tat auf ihre Seele gelegt wie ein nasses, schweres Tuch. Und nun, da sie sicher war, dass der Krebs sie nicht mehr lange würde am Leben lassen, wollte sie ihre Tochter noch einmal sehen. Aus der Ferne vielleicht, sie wusste es noch nicht. Sie hatte herausgefunden, wo Chloé wohnte und sich ein Hotelzimmer ganz in ihrer Nähe genommen. Und nun saß sie in diesem Bus der Linie 68 und würde an der Station Palais Royal aussteigen. Und dann … Man würde sehen …
Als Mike den Kopf vom Fenster wandte, musste er feststellen, dass die Dame bereits ausgestiegen war. Nun gut, dann also nicht „Palais Royal“. Er lächelte und drückte auf den roten Knopf, der in Augenhöhe an der Stange vor ihm angebracht war. Der Bus steuerte die nächste Haltestelle an und Mike sprang direkt vor dem Operngebäude auf den Bürgersteig. Er hatte die Floskel mit den Lebensgeistern, die wieder in einen Körper und in eine Seele zurückkehren, oft zu Papier gebracht. Aber an diesem Abend in Paris, als er begleitet vom lärmenden Verkehr und den Lichtern der Metropole durch die Straßen zu seinem Hotel spazierte, wusste er, wie es sich anfühlte.
ACHT
Paris. Samstag, 17. September 2011
„Un café, un!“, rief der grauhaarige Anatole durch das dunkel getäfelte Bistro. Er hastete durch den Raum und ließ im Gehen das Trinkgeld, das er von dem kleinen runden Tisch direkt am Fenster geklaubt hatte, in die Tasche seiner schwarzen Weste gleiten. Als er an der Theke ankam, wischte er kurz mit einem Lappen über sein Tablett. Helen lächelte. Inzwischen wunderte sie sich nicht mehr darüber, dass die Kellner in Paris die Anzahl der bestellten Getränke am Ende des Satzes immer noch einmal wiederholten. Das hatte sie gleich zu Beginn ihres Aufenthaltes hier gelernt. Erst knapp drei Wochen wohnte sie nun schon in dieser wundervollen Stadt. Anatoles Worte übertönten das Stimmengewirr im Tabac de la Muette und an der Bar machte sich ein Kollege sofort daran, die silbern glänzende Kaffeemaschine zu starten. Die schwarze, samtige Flüssigkeit floss in eine kleine weiße Tasse und mit einem lauten Zischen beendete das Ungetüm aus Chrom seine Arbeit. Die Tasse landete schließlich neben dem Korb mit frischen Croissants und wahllos abgestelltem Geschirr auf dem Tresen. Normalerweise nahm Helen ihren Morgenkaffee an der Theke ein. Echte Pariser machten das schließlich auch so. Morgens hatte niemand Zeit, sich an einem Tisch niederzulassen und lange und umständlich in der Tasse zu rühren. Und kaum war der petit noir getrunken, eilten sie alle zu ihren Jobs. In die Büros an der noblen Rue de Rivoli, einen Juwelierladen an der Place Vendôme oder in die Grundschule in der Vorstadt Marne la Vallée … Verkäuferinnen, Geschäftsleute, Verwaltungsangestellte, Künstler – am Tresen waren sie alle gleich. Die gleiche Eile, die gleichen Gedanken an den bevorstehenden Arbeitstag und wahrscheinlich auch die gleiche Vorfreude auf das, was nach dem Job kam. Aber heute war Samstag. Helen ließ ihren Blick durch das schon lieb gewonnene Lokal schweifen und musste an den Film „Die fabelhafte Welt der Amélie Poulain“ denken. Es gab sie tatsächlich, die Ecke neben dem Tresen, an der die Tabakverkäuferin vor mit Zigarettenpäckchen randvoll angefüllten Regalen auf ihrem Barhocker saß. Im Tabac de la Muette hieß sie Babette, war Mitte 50 und stets in ein Ungetüm von einem Pullover gehüllt, den sie in mindestens zehn Farben besaß. Selbst gestrickt, mutmaßte Helen. Sie hatte gefärbte blonde Haare und ein Gesicht, das darauf schließen ließ, dass sie, was den Tabak betraf, wohl selbst ihre beste Kundin war. Gerade war sie dabei, ihre korallenrot lackierten Fingernägel zu inspizieren und dabei ein Schwätzchen mit dem alten Paul zu halten, der sich hinter der Theke ein paar Meter entfernt von ihr um die Getränkebestellungen kümmerte.
„Sag mal, Paul, das ist doch wohl keine neue Weste, die du da trägst, oh là là, sag bloß, deine Frau hat dich zu einem Einkaufsbummel überreden können.“
Sie lachte und erntete ein schiefes Grinsen von Paul, der erst nur eine wegwerfende Handbewegung machte und gleich darauf vernehmlich Luft ausstieß.
„Ah, diese Frauen“, murmelte er und wandte sich seinen Bestellungen zu. Auch Babette ging wieder an die Arbeit, denn wie an jedem Samstag kamen eine ganze Menge Menschen aus dem Viertel hierher, um Lotto zu spielen. Auch das gab es in Babettes kleinem Reich. Die Chance auf den Geldsegen, auf ein unbeschwertes Leben mit vollem Bankkonto und viel