Entfremdung und Heimkehr. Werner Boesen

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Название Entfremdung und Heimkehr
Автор произведения Werner Boesen
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783741843419



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… das Wiedersehen nach langer Trennung

      In jungen Jahren wurden wir, Peter, Günter, Doris und ich, von unserer Mutter getrennt und in Kinderheime eingewiesen. Später kamen noch zwei weitere Geschwisterkinder hinzu.

      Die folgenden Ausführungen stellen einen Kurzbeitrag dar, der die wesentlichen Kindheitserlebnisse von mir und meinen Geschwistern in geschlossenen Einrichtungen beinhaltet. Die aufgezeigten Phänomene sind sehr ausführlich und im wissenschaftlichen Kontext beschrieben in meinem Erstlingswerk: „Kinder in geschlossenen Einrichtungen. Gefühls- und geschlechtslose Wesen“ (1990):

      In den 1960iger Jahren verbrachten wir über sechs Jahre in Kinderheimen, sog. geschlossenen Einrichtungen mit staatlichem Erziehungsauftrag unter katholischer Trägerschaft. Meine Geschwister waren etwa zwei bis sechs Jahre in geschlossenen Einrichtungen untergebracht. Drei Erzieher und zwei Praktikanten kümmerten sich im Wechsel um eine Masse von Kindern. Es mussten ca. 30 Kinder und mehr gewesen sein. Aufgewachsen bin ich mit den genannten Geschwistern, die das gleiche Schicksal erlitten: sie wurden von ihrer geliebten Mutter gerissen und erlebten – zum größten Teil getrennt – wechselnde Heime, wobei die ersten Jahre des Heimaufenthalts bei uns allen in Form menschlicher Züchtigung und menschlichen Terrors erlebt wurden. Kaum vorstellbar, dass so etwas in unserem Lande, der BRD, passiert. Doch wer konnte sich die Judenvernichtung im 3.Reich vorstellen?

      Obwohl heute die Öffentlichkeit scheinbar einiges mehr erfährt über das, was in geschlossenen Einrichtungen passiert, sind immer noch zu viele Kinder in deutschen Heimen. Seit längerem möchten mehr Eltern Kinder aus den Heimen holen, als Kinder in Heimen vorhanden sind. Weshalb müssen Kinder in Heime und wie erleben sie in jungen Kinderjahren die Heimeinweisung und den Heimaufenthalt?

      1.2. Die Erlebniswelt von Kindern in geschlossenen Einrichtungen

      ZWANGSGEWALT

      Die Heimeinweisung bedeutet für Kleinkinder, deren Eltern noch leben, eine Zwangsmaßnahme. Die Kinder gehen nicht freiwillig ins Heim, sondern möchten aufgrund ihrer natürlichen Nachahmungsbestrebungen bei ihren Eltern bleiben, selbst oft sogar wenn die Eltern ihre Kinder misshandeln. Von Misshandlung konnte in unserem Falle nicht gesprochen werden. Dafür hatte unsere alleinerziehende Mutter wechselnde Männerbekanntschaften und konnte für kein „geordnetes“ Familienleben sorgen. Als dann nach dem ersten Kind noch weitere Kinder geboren wurden, nahm das Jugendamt der Mutter die Kinder weg; vorab bekam sie das Sorgerecht entzogen.

      OHNMACHT

      Zum ersten Mal in unserem noch jungen Menschenleben verspürten wir bei der Heimeinweisung das Gefühl der Ohnmacht. Unser Wille zählte nicht mehr. Mit uns wurde gemacht, wie andere es wollten. Die anderen, das waren Sozialarbeiter, Erzieher und Nonnen, jene Mitmenschen von uns, die scheinbar nur Gutes vollbringen und sich ebenso scheinbar über herzzerreißendes Kindergeschrei und Gestrampel hinwegsetzen können. Hatten sie keine Gefühle mehr? Doch was nutzten Gefühle? Sie hatten ihre Pflicht zu erfüllen und da wurde nicht mehr gefragt, wie dies zu geschehen hat. Hauptsache es geschah, denn der Zweck heiligt die Mittel.

      HEIMTERROR

      Der Heimalltag orientierte sich an einer alten Mönchsregel:

      „Bete und arbeite“.

      Sobald die Kinder in die Schule kamen, mussten sie bei allen anfallenden Haushaltsarbeiten im Kinderheim mitarbeiten. Durchgesetzt wurde dies von den Erziehern nach dem

      Prinzip „Befehl und Gehorsam“

      und dem

      Motto: „Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt“.

      Wenn ein Heimkind nicht gehorchte, wurde es geprügelt und zwar solange, bis es gehorchte. Die Erzieher bedienten sich des Faustrechts und ihnen schien jedes Mittel recht zu sein. Die Heimkinder konnten sich vor lauter Angst niemandem anvertrauen. Es hatte zudem keinen Zweck. Wer es einmal von den Heimkindern wagte, sich seinen Eltern anzuvertrauen und die Eltern den Heimerziehern die Missstände darlegte, erlebte als Heimkind die Hölle auf Erden. Ein scheinbar nie endendes Trommelfeuer an Prügel wurde dem betreffenden Heimkind zuteil, sodass es anschließend wirklich den Mund hielt.

      KINDER SIND NUR NOCH OBJEKTE

      Der terroristische Heimalltag ließ die Kinder zu Objekten werden. Ein berühmter Satz seitens der Erzieherin war: Du faules Subjekt! Gefühlsaustausch seitens der Erzieher erfolgte nicht außer Schlägen ins Gesicht, leider auch eine Art von Gefühlsaustausch. Während des Heimaufenthalts war man als Heimkind

      ein gefühls- und geschlechtsloses Wesen.

      Es war nur eine Frage der Zeit, wann sich das Heimkind als

      Marionette (willenloser Mensch als Werkzeug anderer)

      und

      menschliches Wrack

      fühlen musste. Wenn ein Heimkind krank wurde, nahmen die Erzieher die ersten Krankheitsanzeichen wie Müdigkeit und Lustlosigkeit gar nicht wahr. Solche Anzeichen wurden stets als Faulheit ausgelegt und mit einer Tracht Prügel begleitet. Als meine Backen durch die Kinderkrankheit Mumps so dick angeschwollen waren, dass es endlich die Erzieher sehen konnten, unterblieben die Schläge und eine Einweisung ins Krankenhaus folgte, in meinem Fall ein sechswöchiger Krankenhausaufenthalt, nicht nur wegen der Mumps, sondern auch durch eine inzwischen hinzugezogene Hirnhautentzündung.

      ALLES REGLEMENTIERT

      Der Heimalltag war strikt vorbestimmt, selbst die Spielzeiten und Spielarten. Über jedes Heimkind wurden Berichte geschrieben, in denen von den Erziehern festgehalten wurde, wie sich die Heimkinder verhalten. Jedes Heimkind galt generell als verhaltensgestört und musste sozialisiert werden. Wer sich an den Heimalltag angepasst hatte, war reif für die Außenwelt. Dies bedeutete zunächst, dass Kontakte mit den noch existierenden Elternteilen aufgenommen werden konnten. Ermöglicht wurde dies am Sonntag. Nach dem obligatorischen Morgengottesdienst durften die Kinder - sofern sie sich die Woche über geschickt hatten - ihre Eltern besuchen. Am späten Nachmittag mussten sie wieder zurück sein. Als Heimkind durfte man die öffentliche Schule besuchen, gelegentlich kleinere Einkäufe oder Besorgungen für die Heimleitung in der näheren Umgebung erledigen und in den Sommerferien zu einem Ferienlager fahren.

      GEGENÜBER JEDEM WEISUNGSGEBUNDEN

      Das Heimkind hatte nicht nur den Erziehern zu gehorchen, sondern jedem beliebigen Erwachsenen. Sobald an die Erzieher etwas Negatives herangetragen wurde - egal woher - war man als Heimkind einer Tracht Prügel sicher.

      SELBSTVERLEUGNUNG

      Mit das Schlimmste, was jedem Menschen passieren kann: die Selbstverleugnung. Das Heimkind hatte bei der Heimeinweisung alles zu vergessen, was es bisher erlebt und an Wertvorstellungen verinnerlicht hatte. Die Herkunftsfamilie war ohne Bedeutung. Nur die Heimnormen zählten und nur die Erfüllung der Anweisungen der Erzieher war maßgebend. Da jedoch jeder Mensch an dem festhalten will, was er bisher erreicht und an Werten verinnerlicht hat, gerät das Heimkind in einen Konflikt, den es nicht lösen kann. Die provokative Forderung der Erzieher, die eigenen Eltern zu vergessen und die massive Zwangsausübung durch Gewaltanwendung lassen dem Heimkind keinerlei Chance, über die eigenen Eltern zu reden. Leider wird das Heimkind auch gar nicht danach gefragt, was ihm bei seinen Eltern gefallen hat. Bei den staatlichen Instanzen zählten nur die scheinbar objektiv feststellbaren schweren Erziehungsmängel der Eltern.

      Mutterliebe schien nicht möglich zu sein bei einer Frau, die wechselnde Männerbekanntschaften unterhielt. Für die Kinder gibt es keinen plausibel erklärbaren Grund, von ihrer geliebten Mutter gerissen zu werden. Absurd ist dann die Frage seitens der Vormundschaft, ob man zu seiner eigenen Mutter zurückwolle. Die Verneinung dieser Frage galt als Indiz, dass es dem Heimkind gelungen war, sich von dem „schlechten Elternvorbild“ zu lösen. Für ein Kind gibt es jedoch keine schlechten Eltern. Die Eltern sind stets das Hauptvorbild, an dem sich das Kind orientiert, unabhängig davon, wie das Verhalten der Eltern durch Dritte beurteilt wird. Die Beurteilung der Eltern durch Dritte interessiert ein Kind nicht. Jeder kann selbst überprüfen, wie Menschen reagieren, wenn in ihrer Gegenwart über