Ost und West. Magnus Dellwig

Читать онлайн.
Название Ost und West
Автор произведения Magnus Dellwig
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783847607243



Скачать книгу

den rechten Arm zum Händedruck entgegen. Danach drückt Leo sie bis zu einem Hauch von Berührung an sich, um sogleich wieder loszulassen.

      "Guten Tag Johanna. Ich bin Leo. Uns beide dürfte wohl einen, dass wir uns ein bisschen wie die Zuschauer auf der Bühne des Wiedersehens fühlen dürften. Ich denke, wir wollen daran teilhaben, ohne dabei zu stören."

      "Das hast du schön gesagt, Leo. Mit anderen Worten, die beiden sollen Wissen, dass sie keine Scheu davor zu haben brauchen, uns zu sagen, wenn sie uns los sein wollen, um unter vier Augen tief in die Vergangenheit vor Hans Flucht abzutauchen."

      Leopold nickt und lächelt. Dann geleitet er Johanna in das Wohnzimmer, aus dem er vorhin in den Flur getreten ist.

      Inzwischen hat Paula unter den milden Augen ihres Bruders Petra und Christian per Handschlag begrüßt und sie in Thüringen herzlich willkommen geheißen.

      "Es muss für euch schon ein merkwürdiges Gefühl sein, zum ersten Mal im Leben hinter die Grenze zwischen den zwei Welten gereist zu sein. Lasst euren Fragen und Zweifeln freien Lauf! Ich will mir alle Mühe geben, keine Frage als unberechtigt abzutun. Wie sollte es euch auch leicht gelingen, mit dieser deutsch-deutschen Realität zurecht zu kommen, wenn schon euer Vater und ich, die wir doch so viel mehr darüber wissen und dazu erlebt haben, es aus vielleicht sehr verschiedenen Gründen überhaupt nicht begreifen konnten, als vor drei Wochen die Mauer fiel."

      Außer einem knappen "Hallo Paula" kommt den beiden nichts über die Lippen nach dieser für beide überraschenden Ansprache. Petra, Christian, Hans und Paula folgen Leo und Johanna durch den Flur ins Wohnzimmer. Leo schüttelt seinen drei ihm noch unbekannten Verwandten, die er bisher noch nicht begrüßt hat, kräftig die Hände und bittet darum, Platz zu nehmen. Seiner Frau bedeutet er, den Kuchen holen zu wollen, Kaffee frisch aufzubrühen und für sonstige Getränke zu sorgen. Sie solle sich indes ungestört um "ihre" Familie aus dem Westen kümmern. Johanna ist ein wenig gerührt von dieser zurückhaltenden Rolle, die Leo für sich soeben reklamiert. Sie fragt sich, ob ihr Hans unter umgekehrten Vorzeichen denn wohl so ähnlich reagieren würde. Johanna ist sicher, dies gelte nur an einem seiner guten Tage, doch davon habe ihr Hans in der letzten Zeit zunehmend weniger.

      "Lieber Hans, liebe Johanna, liebe Petra und lieber Christian, darf ich euch zur Begrüßung mit einer traditionellen Spezialität aus der DDR aufwarten? - Natürlich, ihr braucht gar nicht zu antworten. Wenn es bei uns im Osten mal richtig etwas zu feiern gibt, dann trinken wir uns einen schönen roten Rotkäppchen-Sekt. Ich sage euch, das muss jetzt auch sein, damit Ihr euch wirklich stilecht von euren neuen Verwandten begrüßt fühlt."

      Das Lachen der gesamten Runde gibt den Auftakt zu einem lockeren Gespräch darüber, wie die Fahrt gewesen sei, wie ihnen die thüringische Landschaft gefallen habe und dann was die Menschen in Westdeutschland während der letzten drei Wochen denn für Gedanken und Gefühle mit dem anderen Teil Deutschlands verbunden hätten. Paula hebt ausdrücklich hervor, dass Menschen wie sie und Hans durch ihre familiäre Betroffenheit von der deutschen Teilung einfach nicht dazu in der Lage sein könnten, die Empfindungen der anderen, der völlig normalen Deutschen realistisch und ohne falsche Sentimentalität zu erfassen und zu beurteilen.

      "Wir haben uns einfach nur gefreut", kommt es spontan aus Christian heraus. "Warum auch sollen sich denn junge Deutsche wie wir" - dabei zeigt er auf sich und Petra - "übermäßig den Kopf darüber zerbrechen, was jetzt in den nächsten Monaten und Jahren kommen mag. Irgendwie werden die Deutschen wieder näher zusammen finden. - Und, mir persönlich ist es doch ziemlich egal dabei, ob Deutschland dabei schnell wiedervereinigt wird oder ob wir und die DDR bald so unkompliziert miteinander umgehen können wie heute zum Beispiel die Deutschen und die Holländer."

      "Na, na, scheiß egal ist das aber nicht, was aus der deutschen Einheit wird, Christian!"

      Hans mischt sich spontan ein und erntet dafür einen strafenden Blick seiner Schwester.

      "Ich finde, Christian hat ganz Recht. Was schert uns heute eigentlich die große Politik von morgen? Auf einen Schlag ist es jetzt wieder möglich, dass die Menschen zusammen kommen. Also bin ich auch der Meinung, dass es für heute doch völlig ausreicht, wenn wir uns darüber ganz aufrichtig freuen können. Bert ist da auf demselben Trip wie ihr."

      Paula dreht den Hals nach links in Richtung Küche und ruft:

      "Leo, wo ist eigentlich dein allzu wohlgeratener Sohn abgeblieben? Der sollte doch eigentlich hier sein."

      "Kommt gleich wieder, Paula. Ist nur mal kurz bei Alexander. Tauschen mal wieder Platten oder so was Ähnliches."

      Paula nickt verständnisvoll.

      "Ihr seht. Bei meinem Sohnemann ist das wohl kaum anders als bei euch. Am Wochenende mit Freunden Platten hören und so. Ihr werdet euch vermutlich gleich anfreunden."

      Leo kehrt aus der Küche zurück, eine Kuchenplatte mit einer hervorragend aussehenden Schwarzwälder Kirschtorte vor sich her tragend. Mit dem stolzen Gesichtsausdruck des verantwortlichen Bäckermeisters bittet er seine Gäste zu Tisch. Sofort darauf verschwindet Leo erneut in der Küche, um ein Tablett mit Kaffee, Wasser, Milch und Zucker zu bringen. Paula bittet ihre Gäste zu Tisch. Eine kurze Stille überbrückend beginnt sich Johanna anerkennend über die gemütliche Atmosphäre des alten Fachwerkhauses zu äußern.

      "Wirklich schön habt ihr es hier!"

      Unterdessen starrt Paula unentwegt auf die Torte in der Mitte der Kaffeetafel. Sie fühlt sich dreißig Jahre zurückversetzt. Es war zu Hans achtzehntem Geburtstag, dem letzten Geburtstag, den sie zusammen mit Mutter feierten. Ihre Mutter buk damals auch eine Schwarzwälder Kirschtorte, exakt nach dem gleichen Rezept, nach dem Paula mit ihrem Mann die Torte gestern Nachmittag und heute Morgen gebacken haben. Mutter war damals so glücklich! Und stolz war sie, denn Hans stand kurz vor dem Abitur. Ihr Sohn würde als einer der ganz wenigen jungen Menschen des Dorfes in Jena oder vielleicht in Berlin studieren dürfen. An die zweite Möglichkeit mochte sie indes gar nicht denken, denn ein Studium in Berlin hätte ihren Hans doch aus dem lieb gewonnenen alltäglichen Zusammensein herausgerissen.

      Nur wie von Ferne dringen die Stimmen ihrer Schwägerin, von Hans und Leo an Paulas Ohr. Sie unterhalten sich über die Mühen der vergangenen Jahre, immer einmal wieder etwas für das Haus an Baustoffen oder an Einrichtung zu ´organisieren´. Paula hingegen gibt sich ihrer Erinnerung hin, denn plötzlich hat sie das angsterfüllte Gesicht ihrer Mutter vor Augen, als es damals, im Dezember 1959 bei Hans Geburtstagskaffee im kleinen Kreis der Familie mit Tante Elfriede und ihrem Mann, zwischen Hans und Paula zum Streit kam. Was war noch einmal der Auslöser? Ach ja, Paula ist sich wieder ganz sicher. Sie hatten über den Sputnik-Schock im Westen gesprochen. Sie hatte behauptet:

      >>Das sitzt jetzt tief bei den Amerikanern. Nicht sie sind es, die mit der Eroberung des Weltraums begonnen haben, sondern wir! Dieses kleine Wörtchen Sputnik und diese in hohen Pfeiftönen nachhallenden Funksignale werden sich in das Gedächtnis der Menschen eingraben. Das wird haften bleiben als diejenige Begebenheit, bei der allen Kapitalisten und Imperialisten des Westens endlich klar geworden war, dass sie die Sowjetunion nicht mehr in das zweite Glied schieben können.<<

      >>Wir und die Sowjetunion - dass ich nicht lache!<<

      Hans Stimme nahm damals eine unnatürlich hohe Tonlage an. Für Paula und ihre Mutter bedeutete dies stets ein Alarmsignal. Immer in solchen Stimmungslagen geriet Hans in Wallung, und meist hatte das dann politische Ursachen.

      >>Was haben wir denn damit zu tun, dass unser großer Verbündeter, die Sowjetunion, von jetzt an nicht nur einen Großteil des Volksvermögens für die Produktion von Waffen statt von Maschinen, Autos und Kindergärten ausgibt, sondern jetzt sogar auch noch für diese absolut blödsinnige Eroberung des Weltalls? Es ist doch die pure Prestige-Sucht, die unsere Spitzengenossen im Kreml rund um Chruschtschow dazu verleitet, gesellschaftlichen Reichtum auf diese Weise zu verplempern! Aber nein, Hauptsache die Gemeinschaft der antifaschistischen Staaten beweist den Imperialisten, dass wir es sind, die von nun an technologisch die Nase vorne haben. Ich jedenfalls bin nicht stolz auf den Genossen Gagarin. Mir tun die alten Säcke im Politbüro in Moskau nur herzlich leid, wenn sie nicht einsehen wollen, dass