Название | Das melancholische Timbre |
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Автор произведения | Dietmar H. Melzer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738014013 |
Auf dem Heimweg am Abend versuchte ich auszurechnen, ob ich, bei diesem Lohn und den Kosten für ein Mittagessen, bald ein gebrauchtes Auto anzahlen konnte, einen VW Käfer oder einen Kadett. Zunächst aber musste ich ein ordentliches Radio und einen Plattenspieler haben. Im Licht der Hofbeleuchtung stieß ich auf Walter. An seine Lokomotive hatte er nun einen Personenwaggon gehängt.
„Es ist dunkel. Müsstest du nicht längst zu Hause sein?“
„Ja, schon. Herr Becker hat mir den Waggon besorgt, und den wollt ich geschwind probieren. Er will auch noch nach weiteren Schienen schauen. Ach, heute gings mir ja gut, beim Schulbeck einen Wurstwecken, mit der Mark komme ich eine ganze Woche aus, und das nette Fräulein Karin hat mir auch noch Weintrauben geschenkt.“
„Wer ist denn das nette Fräulein?“
„Na, die da oben, im vierten Stock. Könnst dich in sie verlieben.“
„Das will ich mal versuchen.“ Ich musste lachen. „Pack jetzt deine Sachen und geh nach Hause, bevor dich die Nachtgespenster holen!“
„Nachtgespenster? So’n Blödsinn. Es gibt gar keine Gespenster.“
Bei den Lohnscheinen waren sehr viele dabei, die einen höheren Lohn auswiesen als den vorgegebenen, und darunter auch viele, welche die erlaubten hundertdreißig Prozent überschritten. Musste ich wirklich geschickten Akkordarbeiterinnen und Akkordarbeitern, die cleverer als die Refaleute waren, den gerechten Verdienst kürzen? Wenn ich alle übersähe, würde mein Vorgesetzter es merken. Jeden zweiten zu übersehen, wäre ungerecht, und möglicherweise würde eine anständige, ehrliche Haut weniger bekommen und… Ich könnte alle Frauen durchgehen lassen, die verdienten sowieso zu wenig. Aber man sah es der Personalnummer nicht an, ob Frau oder Mann, und ich wusste noch nicht, in welcher Montageabteilung Frauen und in welcher Männer arbeiteten. Indes würde ich dann schwer arbeitenden Männern das Einkommen schmälern, die Ehefrau und zwei Kinder zu ernähren hatten. Ein Kollege musste gemerkt haben, wie ich zögerte. Er trat hinter mich. Alle haben die gleichen Bedenken wie Sie, wenn sie die Lohnscheine kontrollieren, raunte er mir zu. Herr Burian rechnet nach und wird Sie rügen, wenn Sie welche übersehen. Und wenn es wiederholt geschieht, wird er Ihnen Vorsatz unterstellen und Schadenersatz verlangen. Überlassen Sie es lieber der Gewerkschaft, sich mit der Refa herumzuschlagen.
Das Frühstück von Frau Neumeier und die Mahlzeiten in der Kantine reichten mir zum Leben. Ein Abendbrot brauchte ich eigent-lich nicht. Die Kneipe, aus der ich an meinem ersten Abend in dieser Stadt die schöne Nina heraustreten gesehen hatte, nannte sich Cantina Guernica, Sie war ein langer Raum mit einer genauso langen Bar auf der linken Seite mit hohen Hockern davor. Rechts standen eine Reihe Tische an der Wand, die mit einem ungewöhnlichen Bild bemalt war, fliehende, sich windende, vor Entsetzen schreiende Menschen, ein Pferd, das Maul aufgerissen voller Qual, darüber ein unbeteiligt scheinender Stier und eine fliegende Frauengestalt mit einer Leuchte. Der Wirt erklärte, das Bild sei die ungefähre Kopie eines Werkes von Picasso, ein Freund, Horst Krohn, habe es an die Wand gemalt, hätte es ganz gut getroffen, jeder wüsste hier sofort, was mit Menschen im Krieg geschieht, hier das Beispiel, als die deutsche Luftwaffe Guernica bombardierte, es sei bestimmt auch so in Stuttgart gewesen… Der Wirt hatte einen ungewohnten Akzent. Er bildete seine Worte irgendwie ganz vorne im Mund und ließ dabei das R polternd herausstolpern und das S ähnlich wie ein englisches Th lispeln.
„Guernica?“
„Eine baskische Stadt östlich von Bilbao. Ich bin von dort.“
Aus Spanien? Groß und blond wie er war, sah er nicht so aus, wie man sich einen Spanier vorstellt. Und sein Name klang auch nicht gerade spanisch, Iker Etscheberria. Ich fragte ihn, warum er aus dem sonnigen Spanien ins verregnete Stuttgart gekommen sei, um hier eine Bar aufzumachen. Der Wirt begann zu lachen.
„Guernica liegt im Norden ganz nah am Atlantik, und dort regnet es doppelt so viel wie in Stuttgart. Die meisten Häuser haben keine richtige Heizung, einen Kamin vielleicht oder einen Gasofen, der ein Gitterrost zum Glühen bringt. Ein halbes Jahr frierst du und ein halbes Jahr hast du Rheuma.“ Er wurde ernst. „Aber ich bin nicht deswegen von dort abgehauen. Franco mag unsere Sprache nicht, obwohl sie im Baskenland schon mindestens siebentausend Jahre gesprochen wird. Wer Baskisch spricht, wird beschuldigt, ein Staatsfeind zu sein, der das Baskenland von Spanien lösen will. Ein schweres Verbrechen. Und ich wurde zudem verdächtigt, mit subversiven Komplizen ein Polizeiauto mit vier Beamten in Bilbao in die Luft gesprengt zu haben.“
„Und?“
„Natürlich will ich die Unabhängigkeit der Basken, unser Euskadi, damit wir unsere Sprache Euskera und unsere Kultur behalten. Nach dem Ende des Königreiches von Pamplona hatten alle spanischen Landesherren an der Heiligen Eiche in Guernica geschworen, unsere Eigenständigkeit zu respektieren. Nur Franco nicht. Die Deutschen glaubten mir, nichts mit der Bombe in Bilbao zu tun zu haben. Ich bekam hier Asyl.“
Von Basken wusste ich bisher nur, dass es bei ihnen eine besondere Form von Mützen gab, die mein Französischlehrer gerne aufhatte, sonst aber vornehmlich von Franzosen getragen wurden. Mir fiel ein, während der Kubakrise erwogen zu haben, mich im Fall eines Krieges nach Spanien abzusetzen. Was hätten ihrer Regierung treu dienende Beamte mit einem desertierten deutschen Soldaten angefangen? Wenn schon die Basken Schwierigkeiten nur wegen einer eigenen Sprache hatten. Nur das mit der Bombe. Sah der große, blonde Wirt so aus, als könnte er Polizisten ermorden?
„In einem Francogefängnis hätte ich auch zugegeben, die Heilige Jungfrau vergewaltigt zu haben.“ Er deutete auf die Wand. „Bomben lösen nichts. Sie töten nur. Und dass Alexander der Große den Gordischen Knoten mit dem Schwert gelöst hätte, ist eine Erfindung antiker Faschisten.“
Picasso hatte auch viele nackte Frauen