Название | Zeitenwende |
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Автор произведения | André Graf |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847634362 |
Joanne hatte sich eng an ihren Vater geschmiegt und schlief, während Jonathan Cutter, die Augen halb geschlossen, seinen Gedanken nachhing. Er dachte nicht über Aspekte der Zeit oder des Raumes nach, sondern über die Ferien, die vor ihnen lagen und die ihnen drei unbeschwerte Wochen in Europa, der Heimat seiner Vorfahren, bescheren sollten. Dass in diesem Moment das Schicksal eine andere Wendung nahm, ahnte Cutter nicht; zu friedlich und alltäglich hatte der Morgen in diesem Luxushotel begonnen.
*
Auch einem aufmerksamen Beobachter wären die beiden Hotelgäste kaum aufgefallen. Der knapp fünfzigjährige Mann mit dichtem, leicht ergrautem, kurz geschnittenem schwarzem Haar und einem ebenso dichten, dunkelschwarzen Schnurrbart, der sich von dem eher blassen Gesicht abhob, saß entspannt auf dem schwarzen Ledersofa. Er trug sportliche, farblich perfekt aufeinander abgestimmte Kleidung, die es nur in den exklusivsten Boutiquen zu kaufen gab. Er war von durchschnittlicher Statur, doch machte sein Körper einen durchtrainierten Eindruck. Das einzig wirklich Auffällige an ihm waren seine großen, schaufelförmigen Hände, die nicht zu seinem ansonsten schlanken Körper passten.
Der zierliche Teenager neben ihm mochte siebzehn Jahre alt sein und war – die Ähnlichkeit zwischen den beiden ließ keinen Zweifel zu – die Tochter des Mannes. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit leicht hervorstehenden Backenknochen, das nur dezent geschminkt war. Ihre langen, dunkelblonden Haare waren zu einem Knoten zusammengesteckt. Sie trug ebenfalls teure, wenngleich unauffällige Sportkleidung, die farblich auf die ihres Vaters abgestimmt war. Ihr Gesicht strahlte Ruhe und Geborgenheit aus. Sie schien sich in den Armen ihres Vaters wohl und sicher zu fühlen.
Neben dem Sofa stapelten sich einige Koffer, die darauf schließen ließen, dass die beiden Gäste auf einen Wagen warteten, der sie zu ihrer nächsten Destination bringen sollte.
Es gab für den imaginären Beobachter keinen Hinweis darauf, dass sich das Schicksal dieser beiden Personen vor einem gewaltigen Umbruch befand, dass sie bald in einen Sog geraten sollten, aus dem ein Entrinnen unmöglich war.
Hätte es jemanden gegeben, der in der Lage gewesen wäre, diesen Sog wahrzunehmen, so hätte er den Zustand der beiden mit jenem eines Schwimmers verglichen, der sich träge von der Strömung eines Flusses dahintreiben lässt. Er würde bemerken, wie diese Strömung allmählich stärker wurde, den Schwimmer erfasste und ihn nicht mehr losließ. Der ahnungslose Schwimmer – so würde der Beobachter feststellen – wurde unaufhaltsam auf einen Wasserfall zugetrieben, der ihn ins Verderben reißen würde. Doch noch immer realisierte der Schwimmer nichts von der Gefahr, die langsam und völlig lautlos auf ihn zukam. Der Beobachter wusste längst, dass es für den Schwimmer kein Entrinnen mehr gab, bevor jener auch nur bemerkt hatte, dass er sich auf einen Wasserfall zubewegte.
Im Gegensatz zu der sichtbaren Dynamik eines Flusses war an diesem ruhigen Morgen nichts von einer Strömung zu bemerken, die den beiden Hotelgästen zum Verhängnis werden könnte. Trotzdem war sie vorhanden – doch keiner der fünf menschlichen Sinne konnte sie wahrnehmen.
Jonathan Cutter und seine Tochter wurden unaufhaltsam und mit zunehmender Geschwindigkeit von einer mächtigen Strömung weggetragen, die die Menschen Zeit nannten. Doch die Zeit, so der Glaube der Menschheit, war ein langsamer, gleichmäßiger Fluss, in dem keine plötzliche Strömung, kein Wasserfall existieren durfte. Ein unsteter Fluss der Zeit widersprach jeder Logik.
War der Weg der beiden von einer höheren Macht vorbestimmt, oder waren es nur scheinbare Kleinigkeiten, die die beiden Menschen – vorerst nur leicht, dann immer stärker, immer schneller – von der vorbestimmten Lebensbahn abbrachten?
Gewiss war, dass kein plötzlicher Schicksalsschlag die beiden treffen sollte, kein einschneidendes, einmaliges Ereignis, das seine unauslöschlichen Spuren in ihrem Leben hinterlassen würde. Nein, der Lauf ihres Schicksal wurde von drei unscheinbaren Dingen bestimmt: einem defekten Handy, einer Ecstasy-Tablette und Joannes Jetlag.
*
Jonathan Cutter hatte die Überreste seines Handys am Morgen achtlos in den Koffer geworfen. Seine Sekretärin hatte ihn angerufen, als er gerade unter der Dusche gestanden war. Platschnass war er aus der Dusche gesprungen, dabei auf dem glitschigen Boden beinahe ausgerutscht, hatte gerade noch rechtzeitig das Handy geschnappt, bevor die Sekretärin wieder auflegte. Nach einem kurzen Gespräch wollte er das Handy beiseitelegen, wobei es ihm aus den feuchten Händen rutschte, auf dem Marmorboden des Bades aufschlug und in zwei Teile zerbrach.
So erreichte der Anrufer, der in diesen Minuten mehrere Male versuchte, Cutter zu sprechen, nur dessen Anrufbeantworter. Er hinterließ eine Nachricht, von der er nicht ahnte, dass Cutter sie nie abhören sollte.
Sandra fühlte sich elend. Sie hatte nur knappe zwei Stunden geschlafen, bevor sie am frühen Morgen ihren Dienst angetreten hatte. Ihr Freund hatte ihr um Mitternacht eine dieser Tabletten aufgedrängt, von denen sie genau wusste, dass sie ihr eine süße Nacht und einen höllischen Tag bescheren würden. Sie hatte sich anfänglich geweigert, schließlich aber seinem Drängen nachgegeben, die rotgrüne Tablette mit einem Wodka hinuntergespült und war dann ihrem Freund auf die Tanzfläche gefolgt.
Längst hatte die Wirkung der Tablette nachgelassen, obwohl ihr Arbeitstag hinter der Theke der Rezeption erst vor kurzem begonnen hatte. Jetzt dröhnte ihr Kopf, und als das Telefon läutete, schrillte es in ihren Ohren wie eine alles durchdringende Alarmanlage, die direkt neben ihr ausgelöst worden war.
»Ja?«, fauchte sie unwirsch in den Hörer. Dieses Verhalten hätte ihr augenblicklich eine scharfe Rüge ihres Vorgesetzten eingebracht, doch zum Glück hatte dieser ihren rüden Ton nicht bemerkt, da er gerade mit zwei übergewichtigen, grell geschminkten Engländerinnen beschäftigt war, die sich ebenso empört wie lauthals über den schlechten Zimmerservice beschwerten.
Sandra verstand die Stimme kaum, die aus dem Hörer drang. Neben dieser einen Stimme, die beinahe ihr Trommelfell zum Platzen brachte, drängten sich hundert verzerrte Echos durch die Leitung, und Sandra war sicher, dass noch mindestens zwei weitere Stimmen, wiederum begleitet von unzähligen Echos, völlig überflüssigerweise die gleiche Frage stellten. Nein, eigentlich stellten sie die Frauge nicht, sie brüllten sie durch das Telefonkabel direkt in Sandras Ohr.
Sie musste sich schon konzentrieren, um die Frage überhaupt zu verstehen. Sie zu beantworten bedurfte einer ungleich größeren Anstrengung. Ja, sie erinnerte sich daran, heute morgen einen Kunden namens Custer bedient zu haben. Er hatte, begleitet von seiner großen, hässlichen, spindeldürren Frau, ein Taxi zum Flughafen genommen.
»Er ist bereits abgereist«, sagte sie deshalb mit belegter Stimme.
»Sind Sie sicher, dass Herr Cutter nicht mehr in der Lobby wartet?«, insistierten die hundert Stimmen am anderen Ende der Leitung. Eine der Stimmen dröhnte dabei derart laut in ihr Ohr, dass sie beinahe den Hörer hätte fallen lassen.
Es hätte nur einiger klärender Worte bedurft, um das Missverständnis zu beseitigen. Sandra hätte den Namen des Gesuchten wiederholen können, dann hätte ihr Gesprächspartner sofort bemerkt, dass sie von einem gewissen Custer sprach und nicht von Herrn Cutter, nach dem er gefragt hatte. Sie hätte auch erwähnen können, dass der Gesuchte mit seiner Frau reiste, oder dass er ein Taxi zum Flughafen genommen hatte. Jede dieser Bemerkungen