Europas Kreuz. Georg Alfons Schmucker

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Название Europas Kreuz
Автор произведения Georg Alfons Schmucker
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742757272



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dem schmalen Kopf hoch. Seine Augen zogen sich plötzlich zu Schlitzen zusammen. Keiner dieser Bettnässer, die sich General schimpften, wusste, was er wirklich vorhatte. Niemand wusste, auf welche Weise er die Ukraine einkassieren würde. Niemand kannte seine tatsächlichen Pläne. Aber zunächst musste er diesen zitternden Angsthasen zeigen, wer in Russland das Sagen hatte.

      Übergangslos hielt er plötzlich einen alten russischen Armeerevolver in der Hand und richtete ihn auf Molotow. Ohne Vorwarnung zog er den Abzug durch. Die Kugel sauste in eines der eisblauen Augen des widerspenstigen Generals. Molotow blieb nicht einmal mehr Zeit zum Staunen. Er war sofort tot. Sein Kopf knallte mit einem dumpfen Schlag auf die Tischplatte.

      Putschjew steckte in aller Ruhe seinen altmodischen Revolver weg und meinte: „Die Franzosen würden von einem Fait accompli sprechen.“ In die entsetzten Gesichter der verbliebenen vier Generäle sagte er: „Die Deutschen nennen das eine vollendete Tatsache oder einen Sachverhalt, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Die Italiener nennen es nur: Finito la musica! Genau so werden wir im Fall der Ukraine vorgehen. Wir werden eine Situation schaffen, die nicht mehr rückgängig zu machen ist. Also meine Herren, sind Sie für mich oder gegen mich?“

      Die Vorbereitungen liefen auf vollen Hochtouren. An der Grenze zur Ukraine befanden sich inzwischen 560 russische Panzer sowie zahlreiche Bodentruppen. Vor der Krim, von der es nur ein Katzensprung zur Ukraine war, kreuzten die Tanker Putschjews. Aber wichtiger war der Umstand, dass auf der Krimhalbinsel gerade 100 russische Soldaten in die Uniformen ukrainischer Soldaten gesteckt wurden. Alles geschah unter größter Geheimhaltung. Selbst die Köpfe der russischen Soldaten verbargen sich nach einer Weile unter ukrainischen Helmen, die nahezu das gesamte Gesicht bedeckten. Die Lippen waren mit einem eisernen Mundschutz verschlossen, so dass sich kein Soldat versehentlich durch die russische Sprache verriet. Jeder erhielt einen letzten Schluck Wodka. Dann warteten alle nervös die Nacht ab. Ein leichter Nebel erhob sich über der Krim, was das Vorhaben erleichterte. Schließlich wurden die verkleideten russischen Soldaten, die sogar mit originalen ukrainischen Gewehren ausgerüstet worden waren, per Lastwagen zur ukrainischen Grenze gekarrt.

      Dort sprangen die verkleideten russischen Soldaten von den Lkws. Dann warfen sich flach auf den Boden und robbten auf die Grenze zu.

      Alles war gespenstisch still. Nur ein paar Grillen zirpten. Der Nebel verzog sich langsam, lediglich ein paar dünne Schwaden segelten noch durch die Luft. In der Ferne erblickten die Soldaten ein paar ukrainische Grenzposten, die auf- und abpatrouillierten, mit geschultertem Gewehr. Die Scharfschützen robbten sich näher heran und gingen in Stellung. Kurz darauf bellten einige Schüsse auf. Die ukrainischen Posten sackten wortlos in sich zusammen, einer riss die Arme hoch in die Luft. Nur Minuten später schlüpften die 100 verkleideten russischen Soldaten über die wenig befestigte Grenze in die Ukraine. Damit befanden sie sich in Feindesland. Ihr Befehl war ebenso einfach wie infam. Zunächst mussten sie sich sorgfältig verstecken, genau 24 Stunden lang. Aber schon in der nächsten Nacht würden sie von der Ukraine aus Russland scheinbar angreifen. Das würde Putschjew den Vorwand liefern, „zurückzuschlagen“. Vor der Weltpresse konnte er dann behaupten, dass ukrainische Soldaten Russland überfallen hätten. Dass es sich dabei um eine Lüge, so groß wie der der Kreml handelte, war gleichgültig. Waren die Russen nicht schon immer intelligenter gewesen als alle Europäer zusammengenommen?

      Die Soldaten befanden sich in Hochstimmung. Jeder erhielt eine zweite Ration Wodka. Rasch verbargen sie sich innerhalb eines kleinen Wäldchens. Morgen, ja morgen schon, würden sie scheinbar gegen Mütterchen Russland kämpfen. Russlands Größe würde endlich wiederhergestellt werden.

      4

      Die Probleme drohten ihn schier zu überwältigen.

      Putschjew befand sich allein in seinem luxuriösen Geheimbunker unter dem Kreml, während er mit vorgerecktem Kinn die riesige Landkarte studierte, die an der Wand hing; sie zeigte das russische Großreich und alle angrenzenden Länder.

      Russland erstreckte sich noch immer von den Grenzen Chinas bis hin nach Europa hinein. Aber die Ukraine war der ewige Zankapfel.

      Ja, Molotow war ausgeschaltet. Er hatte den anderen Generälen damit bewiesen, dass mit ihm nicht zu spaßen war. Doch die Vereinigten Staaten von Europa waren das eigentliche Problem. Oder doch nicht? Im Grunde genommen existierte ein ganzer Sack voller Probleme. Plötzlich tauchten sie aus dem Nichts aus und pisackten ihn, wie Flöhe. Im Süden Russlands störten gerade wieder einmal die Tschetschenen die russische Harmonie. Ständig stellten sie hinterlistig den Antrag, aus dem russischen Staatenbund austreten zu wollen. Alle Kriege, mit denen sie gebändigt und niedergeschlagen worden waren, hatten den Widerstandswillen der Tschetschenen nicht brechen können. Putschjew zerbrach vor Zorn darüber einen Bleistift, den er gerade in der Hand hielt. Gerade hatte sogar eine tschetschenische Exilregierung die Vereinigten Staaten von Europa um Hilfe gebeten.

      Also musste er diesen verdammten Europäern, allen voran diesem C. G. Geon, beweisen, dass mit ihm nicht gut Kirschen essen war.

      Aber auch die innerrussischen Zustände waren höchst beunruhigend. In Sankt Petersburg machte im Moment ein Parteigenosse gegen ihn mobil, Pjotr Scharbow, der Bürgermeister, weil er, Putschjew, angeblich nicht dafür sorgte, dass die Bevölkerung genug zu beißen hatte. In Moskau regten sich ebenfalls bereits Widerstände gegen die Unterversorgung. Ja selbst Städte, die in der Nähe zur chinesischen Grenze gelegen waren, richteten immer dringendere Mahnungen an ihn, weil wieder einmal die Ernten schlecht ausgefallen waren.

      Bei allen russischen Zaren und Großfürsten, er konnte sich nicht darum kümmern, die alte Größe Russlands wieder herzustellen, während er gleichzeitig dafür sorgte, dass alle russischen alten Weiber genug Hühner in ihrem Kochtopf hatten! Man warf ihm sämtliche Probleme der Nation nach, wie alte Abfallschalen; aber er war nicht die Müllabfuhr.

      Zornig zerbrach Putschjew einen zweiten Bleistift.

      Er musste sich beruhigen. Ärgerlich wanderte er zurück zu seinem riesigen Schreibtisch und holte aus einem Geheimfach eine Flasche Wodka. Dann goss er sich ein Glas randvoll und stürzte es in einem Zug hinunter. Unversehens dachte er an Natascha, die ihm so viele schöne Stunden bereitet hatte, bevor er sie dazu abkommandiert hatte, in Frankreich als Karrierespion in die höchsten Ränge aufzusteigen und den Präsidenten dort um den Finger zu wickeln. Niemand war im Bett so begabt wie Natascha. Sie würde ihm alle notwendigen Informationen zuspielen, was die Aktionen der USEU anging. Das war ihre verdammte Aufgabe. Oh sie war kein Betthäschen, sie war ein sibirischer Tiger. Er erinnerte sich kurz, wie sie einmal ihre rotlackierten Fingernägel in seinen Rücken geschlagen und ihn blutig gekratzt hatte, während sie ihn gleichzeitig fast zu Tode geritten hatte. Doch er musste sich konzentrieren: Wie würden die verfluchten Europäer reagieren, wenn er in der Ukraine einfiel?

      Tausende von Kilometern weiter im Westen beschäftigte sich Major Natascha Netilowna tatsächlich gerade mit dem Président de la République française. Godart schritt mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf und ab, nachdem er Natascha auf ein Geheimdossier aufmerksam gemacht hatte, dass er absichtlich nachlässig auf seinen Schreibtisch geknallt hatte. Aber jetzt, in diesem Augenblick, hielt er in seinem Schritt inne und näherte sich ihr von hinten, in seinem großräumigen Arbeitszimmer im Élysée-Palast.

      Natascha reckte ihm scheinbar unbekümmert ihr provozierendes Hinterteil entgegen. Sie gab vor, das Geheimdossier auf seinem Schreibtisch zu lesen. Aber sie wusste sehr wohl, dass Godart gerade mit unverhohlener Bewunderung ihren verlängerten Rücken studierte. Er hielt sich nur mit Mühe davor zurück, sie mit seinen fleischigen Wurstfingern in der Taille zu umfassen. Gut so! Man musste die Männer zuerst verrückt machen, bevor man sie langsam, Stück für Stück, in die Zuckerdose greifen ließ. Wenn man sich allzu schnell ergab, wenn man eine zu leichte Beute war, verloren sie rasch das Interesse. In diesem Augenblick spürte sie, dass Godart tatsächlich die Finger nach ihr ausstreckte. Aha, der Fisch hatte angebissen

      Unvermittelt wandte sie sich um und zeigte Godart, dem drittmächtigsten Mann Europas, ihr Gesicht, mit den lüsternen, knallroten