Zellgeflüster. Tons May

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Название Zellgeflüster
Автор произведения Tons May
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783742708830



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Hände vor dem Bauch zusammen.

      „Eine Familie?“

      Ich schiebe das Foto vor mir hin und her. „Kommt das Bild ins Kinderzimmer? Soll ich noch ein Tier dazu malen? Wie wäre es mit einem toten Bambi hier?“

      Fiat reißt mir die Kopie aus der Hand. „Sie zahlen 800“, ruft er.

      „OK.“ Ich zucke mit den Schultern.

      Er lächelt mich an.

      Ich hefte das Haus der Fox-Schwestern, der „Mütter des Spiritismus“ in Fiats Worten, an die Wand neben der Leinwand, an der ich gerade arbeite. Das lieblos gefälschte Fenstergespenst sieht lächerlich aus. Ich muss mir überlegen, wie ich das Bild interessanter machen kann. Vielleicht deute ich tatsächlich noch irgendwo ein Tier an. Irgendetwas Lebendiges, um einen Kontrast zu bekommen. Wenn alles tot ist, kommt keine Stimmung auf.

      Nachdem wir den Abgabetermin besprochen haben, erzähle ich Fiat von meiner letzten Traumserie. Er findet das alles sehr spannend. Ich weniger.

      „Es ist vor allem anstrengend. Wenn ich aufwache, bin ich total gerädert.“

      „Schlafmittel sind keine Lösung?“

      „Ich habe die Träume sogar, wenn ich betrunken ins Bett gehe.“

      „Dann versuche es doch mal mit Klarträumen. Du weißt, was das ist, nehme ich an?“

      Fiat, der Mann für pragmatische esoterische Lösungen.

      Ich nicke. „Ich konditioniere mich vor dem Einschlafen mit entsprechenden Suggestionen, damit mir im Traum bewusst wird, dass ich träume. Dann suche ich meine Hände. Dann beeinflusse ich die Handlung. Korrekt?“

      „Ich habe ein gutes Buch dazu, das bringe ich dir mit“, erwidert er und drückt mir einen Zeigefinger in die Brust.

      Fiat hat für jedes Problem ein gutes Buch. Ich zeige zum Regal gegenüber. „Du hast mir schon mal eins zum Thema geschenkt, erinnerst du dich? Danke für den Tipp.“

      Beim Rausgehen klopft er mir auf die Schulter. „Wie wäre es mit einem Dreamcatcher, Beat?“

      In der Nacht darauf träume ich, dass ich ohne Boot im Meer treibe. Ich werde in einen Sturm gezogen, direkt hinein in die Wellen, in die Gischt, in die Schatten großer Fische oder versunkener Schiffe und die Stimme singt leise und monoton: Noch immer hier. Noch immer hier. Nicht angekommen. Nicht angenommen. Der Schoß verschlossen.

      Ich schieße durch immer stürmischere Gewässer. Nicht angenommen, nicht angekommen. Nicht untergegangen, nicht verschluckt, nicht im Blitz verbrannt, nicht an den Felsen zerschellt.

      Ich weiß, ich habe festgehalten. Woran? Ich habe keine Ahnung. Womit? Mit meinen Händen. Bevor ich nach den Händen suchen kann, höre ich den Schrei.

      Im ersten Moment denke ich, dass ich schon wach bin, dass ich die ganze Zeit wach war, aber ich erwache wahrscheinlich erst von dem Schrei. Sofort fange ich an zu zittern. Der Schrei ist vorbei, doch sein Nachklang hat sich in die Luft gestochen, in meinen schnellen Atem hinein. Ich fahre hoch, setze mich auf die Bettkante. Warte, bis sich die Augen öffnen. Als der Schwindel nachlässt, stehe ich auf und gehe ins Bad. Ich mache das Licht an, drehe den Wasserhahn auf, meine Hände grau in dem hellen Licht. Müde lasse ich meinen Kopf hängen, ins kalte Wasser, in den Kalkgeschmack. Ich muss aufwachen, mich beruhigen, den Schrei vergessen. Ich spritze mir mit den Händen Wasser in die Augen, wasche den Traum weg, greife nach dem Handtuch. Mein Blick fällt in den Spiegel.

      Wasser läuft langsam mein Gesicht hinunter, zieht glänzende Bahnen auf der blassen Haut. Ich sehe die Oberfläche der Wassertropfen im Licht zittern, die Wangen hinunter perlen, wie unter einem Mikroskop. Sehe, wie der Bart feuchter und dunkler wird, wie sich das Wasser sammelt, bevor es den Hals hinunterfließt. Gleichzeitig leuchten die Wandkacheln hinter mir auf, anders als sonst, greller. Ich könnte mich umdrehen und sie berühren, wenn ich wollte. Aber ich kann nicht. Selbst wenn ich wollte.

      Ich bin nicht mehr vor dem Spiegel. Ich bin dahinter.

      Vor dem Spiegel stehe ich noch immer im Bad, im nächsten Traum gefangen. Ein Teil von mir ist weg, durch den Spiegel geschlüpft. Ich schaue hinaus, an meinem Körper vorbei ins Bad, hinter mir gellt der Schrei. Ein Schauer fährt mir über den Rücken, ein kalter Luftzug.

      Ich drehe mich um.

      Ich bin in einer Wohnung, die ich von früher kenne. Als Kind habe ich hier ein paar Jahre gewohnt. Ich weiß nicht mehr viel von der Zeit, außer dass wir damals noch eine richtige Familie waren oder so taten und dass ich hier mal zu Hause war. Ich stehe in der Küche. Das Licht fällt dämmrig blau durch das Fenster rechts von mir, sammelt sich fleckig auf den Küchenschränken, die sich an den Wänden aufreihen. Ich drehe mich um und sehe vor mir eine Frau und einen Mann stehen. Sie umarmen sich. Dann geht der Mann ein paar Schritte zurück, während die Frau zusammenbricht und auf dem Boden liegen bleibt. Der Mann hebt den Kopf. Er hat kein Gesicht.

      Ich drehe mich um und renne los. Die Wohnung ist groß, viel größer, als ich sie in Erinnerung habe. Ein Raum führt in den nächsten, ohne dass ich den Ausgang erreiche. Mattes Licht fällt durch die Fenster, an denen ich vorbeilaufe, leuchtet in kleinen Teichen auf dem Boden. Ich trete gegen dunkle Möbel, stolpere über Schatten, durchquere Tür um Tür, ohne mich umzudrehen. Ich bin nicht schnell genug, die Zeit wird knapp, ich muss meine Papiere finden, meine Tasche packen, zum Flughafen fahren. Aber ich weiß nicht mehr, wo ich meine Sachen gelassen habe. Und die Wohnung wird immer größer.

      Schließlich nehme ich einen Satz über die nächste Türschwelle, stolpere, falle hin, stehe wieder auf. Ich bin allein. Vor mir bewegt sich etwas. Ich schaue genauer hin. Eine Masse von glänzenden, ineinander verwobenen Kabeln liegt zwischen mir und der Tür. Ich höre das Schaben auf dem Holzboden. Die Kabel bewegen sich. Mein Blick geht zur Tür. Der Mann steht an der Schwelle. Jetzt sehe ich sein Gesicht. Ein Auge lässt er über die Kabel gleiten, mit dem anderen schaut er mich an. Plötzlich stößt er den Schrei aus, von dem ich aufgewacht bin.

      Ich drehe mich um. Renne los. Sehe den Spiegel an der gegenüberliegenden Wand.

      Die Kacheln sind kalt unter den Füßen, Flüssigkeit tropft mir den Hals und die Brust hinunter. Ich stehe vor dem Badezimmerspiegel. Aus meiner Nase läuft Blut. Mein Mund ist offen. Ich wische mich mit dem Handtuch ab und gehe ins Bett.

      Der nächste Morgen ist feucht und kühler als die Tage davor. Die Luft riecht frisch wie nach einem Gewitter. Um das Bett herum liegen blutige Taschentücher. Ich sammle sie ein, werfe sie in den Abfall, trage die volle Tüte zum Müll in den Hof. Als ich zurückkomme, überfällt mich das seltene Verlangen, die Wohnung zu putzen. Ich fange im Bad an, entferne braune Flecken aus dem Waschbecken, von den Kacheln. Jedes Mal, wenn mein Blick auf den Spiegel fällt, wird mir flau. Das Gefühl des Traums kommt zurück, klebt an mir wie die Feuchtigkeit in der Luft. Ich poliere den Spiegel mit halbgeschlossenen Augen.

      Danach rauche ich in der Küche einen Joint und mache weiter mit dem Rest der Wohnung. Ich räume die Farben und leeren Flaschen zusammen, fege und wische den Boden, rauche noch einen und hänge die Wäsche auf. Als ich unter der Dusche stehe, stelle ich mir vor, wie ich mit dem Schweiß alle Erinnerungen an letzte Nacht abwasche. Heute Nachmittag habe ich einen Termin mit Moira. Es geht mir fast gut.

      Meine Galeristin und ich treffen uns einmal im Monat. Bei diesen Treffen sagt sie mir, wie viele Leute sich beinahe etwas von mir gekauft und wie viele Leute Interesse bekundet hätten. Ich sage ihr, woran ich arbeite, rattere eine Reihe von erfundenen Arbeitstiteln herunter, bis sie lächelt und mich auf einen Kaffee einlädt. Wir gehen immer in dasselbe Café bei ihr um die Ecke, in ein sauberes Deli im sauber sanierten Gallery District und sie begrüßt den Studenten hinter dem Tresen überschwänglich. Sobald wir sitzen, legt sie mir die Hand auf den Schenkel, schaut mir tief in die Augen und fragt, wie es mit der Liebe läuft. Ich antworte irgendetwas Verwirrtes, sie lacht und bestellt Schnaps. Kurz darauf sind wir betrunken. Das ist das Ritual unserer monatlichen Treffen.

      Früher, als sie noch mit meinem besten Freund schlief, waren wir nicht so entspannt miteinander. Inzwischen bin ich