Die Schattensurfer. Hubert Wiest

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Название Die Schattensurfer
Автор произведения Hubert Wiest
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783847667841



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schoss er heraus und flog über die Gletscherspalte. Er hatte keine Kraft mehr, die Landung durchzustehen. Er überschlug sich. Er stürzte. Der eisige Schnee war plötzlich überall. In seiner Nase, in seinen Ohren und unter dem T-Shirt. Er spuckte aus, wischte sich den Schnee vom Gesicht.

      Auf der anderen Seite der Gletscherspalte bremsten die vier Sipos scharf ab. Ruhig standen sie dort und lächelten. Sie wechselten kein Wort, als wüssten sie haargenau, was zu tun sei. Auch eine Gletscherspalte war in der Welt des Golden Surfers nicht von Ewigkeit. Sie würde sich gleich wieder auflösen, verändern, verschieben.

      Luan strampelte sich aus dem Schnee frei. Er tastete nach seinem linken Handgelenk. Beruhigt fühlte er die glatte Oberfläche des ceeBands. Er streifte den Schnee ab.

      Auf dem kleinen Display sah er, wie die Gletscherspalte, die ihn für den Augenblick von den Sipos trennte, langsam wieder zusammenwuchs. Luan rieb seine Hand am T-Shirt trocken, so gut es eben ging. Dann berührte er die Zahlen, die sein Display für die Gletscherspalte anzeigte. Er zog sie tiefer, immer tiefer und breiter hinüber zu den Sipos. Die standen einfach nur da und sahen den Rand der Gletscherspalte auf sich zukommen, wie ein riesiges Ungeheuer, das seinen Rachen aufriss und alles verschlang. Sie schenkten der Gletscherspalte keine Aufmerksamkeit. Sie schienen überzeugt, dass die Gletscherspalte vor ihnen stoppen würde. Bis zum letzten Augenblick standen die Sipos regungslos da. Und dann fielen sie einfach hinein, in den Schlund der Gletscherspalte, verschwanden darin, wie aufgefressen.

      Luan atmete nervös. Er musste nur noch die Zeit verändern. Er verlängerte die Dauer der Gletscherspalte auf eine halbe Stunde. Das würde reichen. Dann loggte er sich aus dem Zentralcomputer des Golden Surfers aus. Niemand sollte seine Spuren entdecken.

      Luan klopfte den restlichen Schnee ab. Er versuchte aufzustehen. Seine Beine zitterten. Die Muskeln brannten. Er konnte sich kaum aufrichten. Eine Ewigkeit verging, ehe er wieder auf den Füßen stand. Seine Knie schwammen. Es fühlte sich an, als würden seine Beine jeden Augenblick zusammenklappen. Zitternd tastete er nach seinem Board. Schob seine Füße vorsichtig darüber. Das schmatzende Geräusch der Magnetverriegelung beruhigte ihn. Als beide Beine wieder fest auf dem Board standen, atmete Luan erleichtert auf. Ganz sanft neigte sich die Piste vor ihm. Luan drückte sich ab. Langsam glitt er talwärts. Vor jedem Schwung hatte er Angst, dass er es nicht mehr schaffen würde. Doch irgendwie half der Berg mit und hievte Luan um die Kurven.

      Endlich sah er die Talstation. Alle Surfer kamen dort unten an. Dicht drängten sie sich um den Ausgang. Hier musste jeder durch.

      Ausgelaugt rutschte Luan den letzten Hang hinunter. Es wurde immer voller. Vor dem Ausgang standen Buden, die Krimskrams und Süßigkeiten verkauften. Ein Duft von Blaubeerpfannkuchen wehte herüber. Die hatte es bei den Häppy Kidz nur an Weihnachten gegeben. Luan griff nach seinem ceeBand, 30 Euro waren darauf geladen. Nur einen einzigen Blaubeerpfannkuchen.

      Luan bremste mit einem letzten Schwung vor den Buden ab. Er löste die Verschlüsse seines Boards und ließ es wie alle anderen einfach liegen. Hungrig humpelte er zum Pfannkuchenstand. Jeder Schritt tat ihm weh. Doch der Duft nach Blaubeerpfannkuchen zog ihn unwiderstehlich an.

      „Bitte einen Blaubeerpfannkuchen“, bestellte er bei der rundlichen Verkäuferin. Diese lachte ihn fröhlich an und sagte: „Du siehst aus, als könntest du zwei vertragen.“

      „Ja, aber ...“, stammelte Luan.

      „Schon in Ordnung“, sagte die Frau und strich die Blaubeermarmelade besonders dick auf die Pfannkuchen. „Der zweite geht auf Kosten des Hauses.“

      „Danke“, hauchte Luan, als sie ihm die gerollten Pfannkuchen in die Hand drückte. Luan bezahlte. Erschöpft ließ er sich neben der Bude in den Schnee fallen und biss in den ersten Pfannkuchen. Klebrige Marmelade quoll heraus. Er leckte sie ab. Für einen Augenblick vergaß Luan alles um sich herum. Er fühlte sich wie an Weihnachten. Luan schloss die Augen und biss noch einmal ab. Diesen Moment konnte ihm niemand nehmen. Nicht Mama Berta, nicht die Sipos und nicht die beiden Mädchen, die ihn verraten hatten. Jeden Bissen genoss Luan, bis der letzte Krümel in seinem Bauch verschwunden war. Luan öffnete die Augen. Er sah nur Schuhe und Beine vor sich. Sie wimmelten durcheinander, als gehörten sie nicht einmal paarweise zusammen. Dann sah Luan Beine, die in Trainingsanzügen steckten, ein Zickzackmuster an der Seite. Sie liefen nicht planlos hin und her. Ganz ruhig schritten sie durch die Menge und kamen dabei immer näher.

      Hastig sprang Luan auf. Er drückte sich hinter die Pfannkuchenbude. Gebückt drängte er sich weiter bis zum nächsten Stand. Hier herrschte ein furchtbares Geschiebe. Luan quetschte sich hinein. Nicht einmal die Richtung konnte er noch selbst bestimmen. Die Menge presste ihn einfach voran. Egal ob er wollte oder nicht. Für einen Moment fühlte sich Luan sicher. Doch dann sah er das Schild, in dessen Richtung er gedrückt wurde. In goldenen Buchstaben blinkte dort das Wort Ausgang. Luan wollte nicht zum Ausgang. Am Ausgang würden sie sicher stehen. Natürlich würden sie dort warten. Nicht zum Ausgang!

      Luan stemmte sich gegen die Masse, versuchte, einfach stehen zu bleiben, wie ein Sack Kartoffeln. Doch er würde höchstens zu Kartoffelbrei zerquetscht werden. Aus diesem Sog gab es kein Entkommen.

      Luan sah die verspiegelten Brillengläser aufblitzen und dann die beiden Sipos in ihren Trainingsanzügen, direkt neben dem Ausgang. Hatten sie ihn schon entdeckt? Er nahm seine letzte Kraft zusammen und kämpfte sich zur Seite. Mit jedem Schritt vorwärts gelang ihm ein halber Schritt nach rechts. Er musste dem Sog entkommen. Doch wie ein einzelner Wassertropfen in einem Strudel wurde er einfach mitgezogen.

      6 DER MANN IM LILA SAMTANZUG

      Da legte sich ein Arm um Luan. Eine behaarte Männerhand packte ihn an der Schulter.

      Luan fuhr zusammen. Sein Herz raste vor Angst.

      „Ich denke, wir nehmen besser einen anderen Ausgang, wo es weniger Gedränge gibt“, sagte der Mann mit brummig tiefer Stimme und zog Luan einfach zur Seite. Es schien ihn keine Anstrengung zu kosten.

      Ängstlich sah Luan zu ihm auf. Nein, der Mann war bestimmt kein Sipo. Er trug einen lila Samtanzug und darunter ein goldenes Hemd, von dem die Knöpfe abzuplatzen drohten, so sehr wölbte sich der Bauch. Der Mann war groß wie ein Bär. Vorne, in der Mitte seines Stirnbands, saß ein amethystfarbener Kristall. Seine Glatze glänzte wie eine Speckschwarte. Nur noch an den Seiten und hinten wuchsen Haare, diese aber so lang, dass er sie mit einem Gummiband zusammengebunden hatte. Der kurz geschorene Vollbart war grau meliert. Luan ließ sich aus der Menge ziehen, folgte dem Mann im Samtanzug. Dieser führte Luan zu dem riesigen Bildschirm zwischen den Verkaufsbuden und dem Ausgang. Ein Snowboarder zeigte in einem Film sein Können. Er jagte einen höllischen Abhang hinunter. „Dank Metagie bin ich fit wie nie“, erklärte der Snowboarder in dem Werbefilm. „Metagie der Müsliriegel für Sportler.“

      Der Mann im Samtanzug klappte ein Stück des Bildschirmsockels zur Seite. Nur für Wartungsarbeiten stand darauf. Ein enger Gang mit Notbeleuchtung öffnete sich hinter der quadratischen Klappe. Luan sah nicht, wohin der Gang führte. Wer war dieser Mann? Was wollte er von ihm?

      Ohne ein Wort zu sagen, deutete der Mann auf den Gang. Luan sollte hineinklettern. Er zögerte. Er hatte Angst.

      Der Mann im lila Samtanzug brummte: „Dort drinnen wirst du keinen Sipo treffen.“

      Woher wusste der Mann, dass Luan sich vor den Sipos fürchtete? Warum wollte er ihm helfen? Egal! Luan quetschte sich durch die Wartungsklappe. Ob der Mann im Samtanzug da überhaupt hineinpassen würde? Er versuchte es nicht einmal und drückte die Klappe hinter Luan zu. Das Schloss schnappte ein.

      „Wir sehen uns dann bei mir“, hörte er den Mann noch murmeln. Aber wo, das verstand Luan nicht mehr.

      Hitze kroch durch den Wartungsgang. Es stank nach Bersol. Große Motoren stampften wie eine Armee. Hier unten lagen die Steuermotoren des Golden Surfers. Luan folgte dem Gang. Metallgitter klapperten unter seinen Schritten. Eine Notbeleuchtung tauchte den Gang in mattgrünes Licht. Wie Riesenschlangen zogen sich Kabel unter dem Bodengitter hindurch. Es wurde immer heißer und enger. Luan konnte nicht mehr stehen. Auf allen vieren musste er jetzt kriechen. Das Muster des Gitters drückte