Cricketfield Road. Boris Born

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Название Cricketfield Road
Автор произведения Boris Born
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738039900



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ich den Schal noch?

      Eine kleinere Straße. Niemand mehr unterwegs - nur ich und das Straßenlicht. Seltsam klar, seltsam frisch. Die Fenster in den Häusern sind dunkel. Da vorne kommt einer.

      Er läuft auf der weißen Mittellinie der Straße voran. Ich höre sein Keuchen, denn er rennt etwas bergauf. Er hat mich auch gesehen und kommt auf mich zu. Ich habe keine Angst, nur etwas, denn ich bin ein Stück zurückgewichen. Der Mann macht eine beruhigende Handbewegung. Er ist atemlos. Dadurch wirkt er harmlos. Er trägt ein hellblaues Hemd und eine Anzugshose. Er ist groß und kräftig. In einer Hand hält er ein Handy.

      „Ich ... Unfall ... Benzin ... meine Frau ... Krankenhaus... .“

      „Okay, okay“, sage ich sehr ruhig.

      „Mein Auto - liegengeblieben ... Ich musste von London Bridge ... bis hierher ... in das Homerton Hospital ... meine Frau ... das Baby ... es war kein Platz mehr im Krankenhaus in London Bridge.“

      „Das tut mit leid“, sage ich, „aber ich bin Ausländerin und wenn sie so schnell sprechen, kann ich sie nicht verstehen.“

      Er hustet, aber er bekommt immer noch nicht genug Luft. Sein Gesicht ist ganz blau. Er versucht zu lächeln, holt tief Luft und entschuldigt sich. Dann fängt er noch einmal an.

      „Ich war mit meiner Frau auf dem Weg ins Krankenhaus. Sie bekommt ein Kind. Aber im Krankenhaus in London Bridge war kein Bett mehr frei und so sind wir nach Homerton Hospital unterwegs gewesen, aber dann war plötzlich das Benzin alle und ich bin losgerannt, um Benzin zu kaufen. Da vorne ist eine Tankstelle. Ich habe aber mein Geld in meinem Mantel im Wagen gelassen. Vielleicht wäre es Ihnen möglich mir nur so vier oder fünf Pfund zu leihen, damit ich Benzin kaufen kann. Ich verspreche Ihnen, ich bringe Ihnen das Geld in zwanzig Minuten zurück.“

      Keine Frage! Ich helfe ihm.

      „Hier sind 5 Pfund.“

      „Oh, haben Sie vielen Dank, Sie retten mich“, sagt er erleichtert, „haben Sie einen Kugelschreiber, damit ich Ihre Adresse aufschreiben kann?“

      „Ja. Aber ich kann Sie Ihnen auch schnell aufschreiben. Das ist einfacher.“ Ich schreibe also auf eine alte Fahrkarte: Lena Schwarz.

      Darunter: 104 Cricketfield Rd.

      Darunter: London E5 8NS.

      Darunter: Tel. 020/8525 1748.

      Der Mann nimmt sie und steckt sie zusammen mit dem 5 Pfundschein in die Hosentasche.

      „Ich bin in 20 Minuten da - versprochen! Sind sie dann noch auf? Na, falls nicht, stecke ich das Geld in einen Umschlag und werfe ihn durch den Briefschlitz.“ Ich nicke. Er gibt mir seine Hand, schüttelt sie dankbar und eilt davon.

      Zuhause. Den Wasserkessel an. Blödes Warten. Ich hätte ihm das Geld auch schenken können.

      Eine Stunde jetzt schon. Ich starre auf den Zebrastreifen. An jedem Ende steht eine schwarze Stange. Auf jeder Stange ist ein großer Glasball. Der Ball blinkt gelborange - auch tagsüber.

      Ich starre auf die zwei, drei Straßenlaternen mit gelbem Licht. Solches, das nachts Moskau in eine völlig andere Stadt verwandelt. Solches, das alles ertränkt und überflutet und unterspült. Solches, das in jede Ritze dringt und alles gelb erscheinen lässt. Solches, das die belgischen Autobahnen beleuchtet hat, als man noch Energie verschwendet hat. Nicht solches, wie es die französischen Autos haben, das ist grüner.

      Nachts nimmt der Verkehr etwas ab. Nicht, dass es ruhig wird, aber es wird zahlenmäßig weniger. Die, die kommen, rasen - klar. Sie geben Gas, lassen die Kuppelung schleifen, bringen die Nadel im Drehzahlmesser zum Anschlag. Sie sind Helden. Oder es sind große Lastkraftwagen: 2 Tonner, 3 Tonner, 4 Tonner und mehr, die die Gunst der Stunde nutzen. Die sonst kaum um eine Ecke kommen und nun befreiter rangieren.

      Ich gehe wieder hinab in die Küche. Wo ist nur dieser verdammte Dosenöffner? Hier. Ananas oder Litschis?. Ich zermartere mir den Kopf und suche eine Obstschale. So was gibt es natürlich nicht. Aber eine Tasse muss doch irgendwo sein? Eigentlich kann ich auch gleich aus der Dose essen. Ich drücke die Dosenöffnerspitze in die Büchse mit den Ananasscheiben. Noch während es zischt ärgere ich mich, dass ich mich nicht für die Litschis entschieden habe. Vorsichtig biege ich den scharfen Dosendeckel zurück und suche einen Löffel. Dann haue ich mir gegen die Stirn. Klar, die hat alle Steven mit in sein Zimmer genommen. Also nehme ich eine Gabel und esse. Die Ananas ist gelb und schön kühl. Vielleicht etwas zu süß. Die Litschis ... .

      Au! Au! Au! Jetzt hab’ ich mich aber gebissen! Meine arme Zunge. Es blutet und wie es blutet. Das muss ich mir im Spiegel ansehen. Au weiha, die halbe Zunge ab! Nicht ganz! Müsste bestimmt genäht werden. Vielleicht auch nicht. Nein, nein, nein. So ein Pech! Typisch! Es hört einfach nicht auf! Und es tut weh! Es tut höllisch weh! Ist eine Ader getroffen? Nein, nein, halb so wild, wird wieder werden.

      Es dämmert schon! Startschuss für den Berufsverkehr. Lastwagen und Busse wälzen ihr Gewicht über den Asphalt. Es ist obszön! Es ist so obszön! Ich mache kein Licht an. Es ist sowieso hell im Zimmer. Gelb beleuchtetes Rosa. Das ergibt ein dreckiges Violettbraun. Die Scheinwerfer wandern die Wände entlang. Die Autos rauschen wie eine Brandung. Aber diese Brandung ist nicht beruhigend. Diese Brandung ist widernatürlich, sie stört. Sehnsucht Meer. Das Herz pocht in der Zunge. Ganz dick. Abwarten. Bei Bussen zittert es in der Wunde. Wie soll ich dabei schlafen?

      Außerdem! Außerdem? Was ist mit dem 5 Pfund Kerl? Wo bleibt er? Überhaupt, hatte er nicht glasige Augen? Ist er nicht betrunken gewesen? Zu betrunken, um Auto zu fahren? Na, das wär‘ was.

      Große Balken. Riesige Nägel ragen aus den Balken heraus. Ich trage die Balken, wie Jesusdarsteller das Kreuz in amerikanischen Filmen tragen. Ich breche dauernd zusammen, bis ich alle Balken, ungefähr zehn, endlich auf der Kreuzung vor meinem Fenster gestapelt habe. Dann fahren viele Autos in den Balkenberg. Es knallt, Glas splittert, Reifen platzen, Wagen verkeilen sich. Ich winke hinaus und schwenke eine Fahne. Ich stehe am Fenster und lache.

      Eine Autobahn. Ich sitze am Steuer, kuppele, bremse und gebe Gas. Ich verpasse eine Abfahrt. Ich rauche am Steuer eine Zigarette. Der Rauch geht in mein Auge. Er frisst sich tiefer. Das Auge tränt. Ich stehe im Stau. Alle steigen aus und spazieren herum. Dann geht es endlich weiter. Nach ein paar Kilometern ist wieder ein Stau. Mein Auge tränt immer noch. Ein Schneesturm kommt auf. Endlich löst sich auch dieser Stau auf. Ich drücke mit den Fingern auf das Jochbein und die Augenbraue. Das Auge fällt heraus. Es ist ein Glasauge. Ich nehme auch das andere heraus. Es ist auch aus Glas. Ich sehe mich vom Rückspiegel aus an und erschrecke vor meinen Augenhöhlen. Ich steige aus. Der Schnee ist nun meterhoch. Ich kann ihn nicht sehen, aber er ist überall, unter mir, neben mir, über mir. Ich grabe mich durch die kalten Massen.

      Ich fahre mit einem dunkelblauen VW Käfer durch Berlin. Ein alter Schulfreund hat ihn mir geliehen. Ich kuppele dauernd und schalte. Kuppeln und schalten. Kuppeln und schalten. Verkrampft halte ich das Lenkrad, das mir zu groß vorkommt. Ich fahre ganz langsam. Ich krieche kleine Straßen entlang. Ich habe Angst, das Auto zu beschädigen. Ich suche eine Parklücke, die für das Auto groß genug ist. Ich sehe eine, aber ich weiß, dass ich niemals einparken kann, da ich gar nicht Auto fahren kann. Ich fahre weiter. Aber ich kann das Fahren einfach nicht bremsen, da ich gar nicht Auto fahren kann. Dann kann ich nicht lenken, da ich gar nicht Auto fahren kann.

      Wach. Liege wach. Bin es. Zungenweh. Wäre es still, so wäre es in Ordnung. Ohne Lärm wäre alles erotisch. Die Stille würde mich gesund und schön machen. Bremsen. Anfahren. Die Motoren heulen, als hätte man die Seelen hunderter Pferde in sie gepresst. Sie wiehern. Mopeds schluchzen wie Giraffenseelen. Giraffen? Giraffen, das sind schöne Tiere. Giraffen heulen bestimmt herzergreifend, vielleicht wie Mopeds. An der Zimmerdecke wehen graue Reste von Spinnweben.

      Wie konnte ich nur! Wie konnte ich nur diesem Mann 5 Pfund geben? Wieso habe ich Ananas gegessen? Augen zu!

      Der Lärm. Der Lärm. Die Ohren krümmen sich. Sie knicken ab, wie Sonnenblumen im Sturm. Sie