Название | Im Schatten des Todes |
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Автор произведения | Aris Winter |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748588269 |
Jagd und Flucht
Nach einer schier endlos langen Nacht wurde es draussen wieder hell. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete noch immer. Mit dem Tageslicht hatte auch die Stärke des Windes wieder zugenommen. Es pfiff erneut durch die Ritzen des Fensters. Die Couch war ungemütlich und er spürte einen leichten Schmerz im Nacken. Er warf einen Blick ins Kinderzimmer und musste feststellen, dass sich in den letzten Stunden nichts verändert hatte. Glasscherben lagen über dem Fussboden verstreut herum. Das Fenster stand weit offen. Unter dem Fenster sammelte sich Regenwasser zu einer Pfütze und der Vorhang war vom Wind arg in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Bett stand leer und die Decke lag noch genau so zusammengefaltet auf der Matratze, wie sie Liam am Freitag zurückgelassen hatte. Ansonsten gab es keine Hinweise auf eine Entführung. Keine Schuhabdrücke, keine Stofffasern, keine auffälligen Gegenstände, nicht einen einzigen Anhaltspunkt. Vielleicht hätte die Spurensicherung der Polizei einen Hinweis liefern können, doch das Telefon lag mittlerweile kaputt in der Regenpfütze und liess sich nicht mehr einschalten. Er fragte sich, wie es die Typen geschafft hatten in die Wohnung einzudringen. Eine Frage, die ihm zum jetzigen Zeitpunkt niemand beantworten konnte. Vielleicht würde es sogar für immer ein Geheimnis bleiben.
Er ging zurück ins Schlafzimmer. Lena schlief. Für Liam war es ein absurdes Bild.
‘Wie konnte sie bloss schlafen?’ fragte er sich. Also rüttelte er sie unsanft aus dem Schlaf zurück in die bittere Realität.
“Wie sieht dein Plan aus?” fragte er direkt in ihr müdes Gesicht. Sie stöhnte.
“Ich weiss es nicht”, murmelte sie, während sie sich die Augen rieb.
“Wir brauchen ein Fahrzeug”, beantwortete Liam seine Frage. Lena setzte sich auf und stöhnte erneut.
“Wo willst du denn hin?”, fragte sie verwirrt umher blickend, “du wirst dich in Gefahr bringen.”
“Ich muss hier weg”, insistierte Liam. Er wurde sichtlich nervöser. Noch nie fühlte er sich so hilflos. Doch für ihn war klar, dass er nicht in der Wohnung bleiben konnte.
“Ohne Risiko gibt es keinen Gewinn”, sagte er sich.
“Ich frage meinen Nachbarn, ob ich mir seinen Wagen ausleihen darf”, sagte er bestimmt und verliess zielstrebig das Schlafzimmer. Er drückte zuerst sein Ohr gegen die Wohnungstüre und als er von draussen her keine Geräusche vernahm warf er einen prüfenden Blick durch den Türspion.
Vorsichtig drehte er den Schlüssel und öffnete das Schloss. Es klickte unmerklich. Danach drückte er die Türklinke nach unten und öffnete die Türe einen Spalt breit. Im Treppenhaus war es ruhig und düster. Die Lampe, die über ihm an der Decke des Treppenhauses hing, war ausgeschaltet. Die Wohnungstüre seines Nachbarn lag in etwa drei Meter Luftlinie direkt gegenüber. Langsam setzte er einen Fuss auf den grauen Steinboden des Treppenhauses, beugte sich nach vorne und klopfte leise an die Wohnungstüre seines Nachbarn. Er hörte in dessen Wohnung Fussschritte näherkommen. Die Türe wurde geöffnet und ein junger Mann mit wilder Frisur erschien im Türrahmen. Er trug bloss schwarze Boxershorts. Das Kabel seines Kopfhörers schlängelte sich seinem durchtrainierten und Sonnenbank gebräunten Körper entlang. Auf der linken Brust prangte ein grosses Tattoo eines Löwenkopfes, mit gefährlich aufgerissenem Mund und scharfen Zähnen. Um den Hals trug er eine goldene Kette mit einem dezenten Kreuz als Anhänger. Als er Liam erblickte zog er den linken Stöpsel seines Kopfhörers aus dem Ohr. Liam musterte ihn und verfolgte ungläubig das Kopfhörerkabel, welches in seiner Boxershorts verschwand. Er fragte sich zugleich, ob es wirklich bequem sein konnte, seinen Ipod in der Unterwäsche herum zu tragen.
“Guten Morgen Liam. Du siehst beschissen aus. Wie kann ich dir helfen?”, fragte sein Nachbar mit sarkastischem Unterton. Liam warf einen prüfenden Blick nach links in Richtung des Fahrstuhls. Der Nachbar tat es ihm gleich, ehe er ihn fragend ansah. Liam schüttelte eifrig mit dem Kopf, bevor dieser eine weitere Frage stellen konnte.
“Darf ich mir deinen Wagen ausleihen?”, fragte er beinahe flüsternd.
“Selbstverständlich”, antwortete der Nachbar, ohne die Lautstärke seiner Stimme auf den Flüsterton anzupassen und drehte sich zur Seite. Liam sah, wie er den Autoschlüssel von einem Nagel an der Wand entfernte. Nun wedelte er mit dem Schlüssel wild durch die Luft.
“Ich hoffe du bringst ihn mir unversehrt zurück. Er steht unten in der Garage. Ich habe bereits die Winterreifen montiert, falls du damit in die Berge willst” meinte er mit einem künstlich ernsten Unterton und einem breiten Grinsen.
“Natürlich”, antwortete Liam trocken, als er den Autoschlüssel entgegennahm. Er war froh, dass der Nachbar seinen Schlüssel nicht auch in den Boxershorts herum trug.
Er schloss die Wohnungstüre ab und ging zurück ins Schlafzimmer, um Lena klar zu machen, dass sie schnellstmöglich von hier verschwinden mussten. Glücklicherweise konnten sie mit dem Fahrstuhl die Garage direkt erreichen, ohne dazu das Haus verlassen zu müssen. Er ging noch immer davon aus, dass der Hauseingang von irgendwelchen Auftragskillern überwacht wurde. Lena trottete verschlafen durch den Flur ins Badezimmer und verschloss die Türe hinter sich. Liam verwarf genervt seine Hände in der Luft. Es war immer dasselbe mit den Frauen. Selbst wenn die Wohnung in Flammen gestanden hätte, die Frisur musste sitzen, bevor das Haus verlassen werden konnte.
Ungeduldig ging er im Flur auf und ab. Als Lena ihre Frisur gerichtet hatte verliessen sie, zielstrebig und ohne die Wohnungstüre hinter sich zu verriegeln, die Wohnung. Mit dem Fahrstuhl fuhren sie ins Untergeschoss, wo sich neben dem Keller auch die Garage befand.
Der silberne Hyundai Tucson stand rückwärts eingeparkt, bereit zur Flucht. Liam befahl Lena, sich auf die Rückbank zu setzen, damit sie nicht gesehen werden konnte. Die Scheiben im hinteren Teil des Wagens waren abgedunkelt. Er startete den Motor, drückte vorsichtig auf das Gaspedal und verliess unauffällig die Garage, welche hinter dem Haus auf eine Nebenstrasse führte.
Das miese Wetter spielte ihnen glücklicherweise in die Karten. Dank des Regens war die Sicht etwas beeinträchtigt und sollte der Auftragskiller tatsächlich den Wagen im Visier gehabt haben, so hätte er ihn hinter dem Lenkrad nur schwer identifizieren können.
Liam fuhr Richtung Stadtzentrum. In die Innenstadt waren es rund fünfzehn Kilometer. Er hoffte, dass er dort in der Menschenmasse untertauchen könnte.