Der Weg nach Afrika - Teil4. Helmut Lauschke

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Название Der Weg nach Afrika - Teil4
Автор произведения Helmut Lauschke
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783753189550



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gebrochen war. Da ein Röntgen ohne Strom nicht möglich war, ging Dr. Ferdinand mit den beiden in den Gipsraum, gab dem Jungen auf der Liege die Spritze für die Kurznarkose ins Gesäss und richtete die Fraktur nach klinischem Ermessen und Augenmass ein. Der Mann, der nicht der Vater des Jungen war, zog den Grosszeh des Fusses nach oben. Er sagte nichts, als er beim Anlegen des Gispverbandes einige Spritzer abbekam. Nach dem Manöver der Fraktureinrichtung und dem Gipsen waren beide Beine gleich lang, und die Grosszehen schauten gleichermassen nach oben. Dr. Ferdinand trug die Schmerztabletten in den Gesundheitspass ein, den er dem Mann zwischen den rechten Daumen und Zeigefinger schob, der den aufgewachten Jungen in den Armen hielt. Er sollte zur Röntgenkontrolle nach einigen Tagen wiederkommen, wenn es den Strom dafür gab. Da sass nun eine alte Frau auf dem Schemel, die sich den linken Unterarm nach einem Sturz gebrochen und das Gesicht geschürft hatte. Sie bekam die ambulante Behandlung ohne Röntgenbild und bedankte sich, als sie mit dem Gipsverband, der von der Hand bis zum Oberarm reichte, den Gipsraum verliess und den verknitterten Pass, auf dem der Name abgegriffen war, mit dem Eintrag der Schmerztabletten in der rechten Hand hielt. Der junge Mann hatte sich bei einem Schlag gegen den Bolzen den linken Ellenbogen verrenkt. Eine Fraktur war nicht zu tasten. So brachte Dr. Ferdinand den Ellenbogen ins Gelenk zurück und stellte ihn mit einem Gipsverband ruhig. Auch ihm wurde aufgegeben, zur Röntgenkontrolle zu erscheinen, wenn es der Strom wieder tat. Es waren noch andere Patienten mit Knochenbrüchen, die ohne Röntgenbild behandelt werden mussten. Dazwischen wurden Wunden gesäubert und genäht. Die steril in Nierenschalen verpackten Instrumente waren zwischenzeitlich ausgegangen, dass sie gesäubert und in eine Desinfektionslösung gelegt wurden, um sie weiter zu gebrauchen. So machte es der philippinische Kollege auch, denn eine Dampfsterilisation gab es ohne Strom auch nicht. So wurde an allen Ecken improvisiert, um unter den kriegsbedingten Umständen den Menschen zu helfen, soweit es eben ging.

      Es war Mittagspause, und der Kollege ging pünktlich nach Hause, um seine Familie zu sehen, an die er während des Granateneinschlags dachte, als die Wände im halbdunklen Teeraum zitterten und er sprachlos Dr. Lizette anschaute, als sie mit ernstem Gesicht ihr "ag nee!" lauter wiederholte, das sie beim Aufheulen der Sirenen über dem Dorfe das erste Mal leiser sagte, und nun bedenklich hinzufügte: "Wenn jetzt Verletzte kommen, können wir nichts machen." Dr. Ferdinand bemerkte es und versuchte ihn zu beruhigen, als er sagte, dass da wohl nichts passiert sei, weil die Detonation so nah auch nicht war. Sie gingen ein kurzes Stück zusammen. Dem Kollegen war die Sorge auf dem Gesicht abzulesen, als er den Weg nach Hause antrat. Dr. Ferdinand ging zum Speiseraum, um zu sehen, ob es da etwas zu essen gab. Der Wärter im weissen Dress in der Teeküche stand hinter der Durchreiche und gab jedem zwei gekochte Eier auf den Teller, wozu der Gasherd gut war. Jeder konnte sich die Scheiben des geschmacklosen Brotes selbst nehmen. Zu trinken gab es Tee, für den das Wasser in einem grossen Topf auf der anderen Gasflamme kochte. So schlecht war es also nicht, es gab zu essen und zu trinken.

      Dr. Ferdinand dachte beim Kappen des ersten Eis an die Patienten, wie die wohl über die stromlose Runde mit dem Essen kämen. Da halfen die Angehörigen aus, wenn Frauen und Mütter den Papp von zu Hause brachten. Die Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft der einfachen Menschen waren sprichwörtlich und afrikanisch angeboren. Die Menschen bekamen diese Situation ohne unnötige Wort schnell in den Griff. Sie zeigten die Grösse in der Not und liessen keinen Zweifel daran aufkommen, dass das Leben weitergehen musste. Er sass noch eine Weile allein am runden Tisch, goss sich die zweite Tasse Tee ein und steckte sich eine Zigarette an. Er blickte durch die offenstehende Glastür über den kleinen, sandigen Platz zum Flachbau mit den kleinen Wohnstellen und den ockerfarbenen Asbestwänden und versuchte sich die Genügsamkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen in Deutschland vorzustellen. Da musste er bis in die letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre zurückgehen, wo es das auch gegeben hatte. Doch mit dem sogenannten Wirtschaftswunder waren diese Tugenden verkümmert. Der Gnom, der da zurückgeblieben war und sich nur vereinzelt und oft naseweiserisch blicken liess, konnte hier dem afrikanischen Riesen die Hand nicht reichen. Das Besitzdenken dort oberhalb des Äquators hatte die Menschen innerlich arm gemacht. Das Nordsüdgefälle galt für den äusseren Besitz, nicht aber für den inneren Verlust, wenn man bezüglich der inneren Werte eher von einem Nordsüdanstieg oder Südnordgefälle sprechen müsste. Er drückte die Zigarette auf der Untertasse aus, als der Wärter "ha!" rief und mit dem Zeigefinger auf den Kühlschrank wies, dessen Maschine wieder brummte. Er kam in den Speiseraum, um dort das Licht an- und wieder auszuknipsen. Er rief erfreut: "Kyk, nou he ons weer lig!" (schau, jetzt haben wir wieder Licht) und knipste zur Bestätigung den Lichtschalter wieder an und aus. So kehrte nach drei Tagen der Strom ins Hospital zurück, was für die Arbeit von grösster Bedeutung war. Dr. Ferdinand verliess den Speiseraum und ging mit dem Gefühl der Erleichterung zum 'Outpatient department' zurück, um dort die Arbeit an den Patienten fortzusetzen, die da geduldig auf den Bänken vor dem Untersuchungsraum 4 sassen und darauf warteten, gesehen zu werden.

      Der philippinische Kollege kam mit entspanntem Gesicht zurück, weil sein Haus noch stand und die hausgemachte Kost in der Vollzähligkeit der Familie besonders gut geschmeckt hat. Er lächelte, als er seinen Stuhl am Tisch einnahm und mit der Arbeit begann. Die Arbeit wurde mit Elan getan, da hatte der Stromanschluss und das heile Haus des Kollegen die Gemüter belebt. Knochenbrüche wurden gerichtet, Fremdkörper entfernt, Abszesse gespalten; es wurde gegipst, genäht und wieder gegipst. Es lief wie am Schnürchen. Da brachte der Kollege ein ausgekugeltes Schultergelenk ohne Schwierigkeit in Ordnung, weil er den zweiten Handgriff der Kocher'schen Methode mit der Auswärtsdrehung und dem Anheben des angelegten, im Ellenbogen rechtwinklig gebeugten Armes bis zur frontalen Ebene beherrschte. Es machte dem Elan nichts aus, dass es mehr Patienten waren, von denen der letzte erst mit Eintritt der Dämmerung den Gipsraum verliess. Die Nachtschwester hatte seit über einer Stunde die Tagschwester abgelöst. Sie schob die Formulare auf dem Tisch zusammen und stapelte die Tüten mit den Röntgenbildern vom Nachmittag auf einen Stoss. Die Doktoren kratzten sich den Gips von den Fingernägeln und Hosen, wuschen die Hände und schlugen sie zum Trocknen durch die warme Luft. Es war ein erfolgreicher Montagnachmittag, an dem der Strom das Hospital wieder zum Leben erweckte. Sie wünschten einander eine ruhige Nacht. Der Kollege ging entspannt nach Hause zurück, und Dr. Ferdinand schaute noch einmal kurz in die Säle.

      Die Nachtschwestern waren erleichtert, dass sie aufs Kerzenlicht nicht angewiesen waren, wie in den drei Nächten davor. Das Licht von der Decke machte ihnen Mut, die Nacht leichter durchzustehen. Beim Überqueren des Vorplatzes schaute er nach den Menschen, die auf dem Betonboden vor der Rezeption sassen, aus Blechschüsseln löffelten und Näpfen tranken, alte Frauen an Stummelpfeifen pafften, alte Männer an ihren krummen Stöcken rauf und runter griffen, und Mütter ihre Kinder stillten und in Tücher wickelten. Der Pförtner an der Ausfahrt schob hinter ihm das Tor zu und gab ihm den Nachtgruss durchs Gitter. Dr. Ferdinand nahm den kürzeren Weg zwischen Stacheldraht und zerfleddertem Lattenzaun, ging an den fünf hochgestelzten Blockhäusern vorbei, die leer standen, wo an einigen die Holzstiegen mit den fünf Trittbrettern schon fehlten. Die Sonne hatte sich hinter dem Horizont verabschiedet und zog das letzte Feuerrot aus dem Himmel zurück, als er das zerknitterte 'Permit'-Papier dem Wachhabenden an der Kontrollschranke vorhielt, der es sich ansah, obwohl er nichts sehen konnte und seine Taschenlampe in der Tasche stecken liess. Die streunenden Hunde waren wieder da, die mit waagerecht gehaltenen Schwänzen auf ihn zukamen, im Geradeausblick an ihm vorbeiliefen oder mit eingeklemmten Schwänzen vor ihm wegliefen. Die Fünferkolonne der 'Elands' mit den langen Rohren nahm die Linkskurve Richtung Dorfausgang, als er das Tor zuschob und den Riegel ins Schloss fallen liess. Die Sandalen mit den verschwitzten Korksohlen blieben in der Veranda. Er rieb den Schweiss von den Fusssohlen in den Sand und den Sand auf der Stufe ab, zog sich das klebrige Hemd vom Körper und machte sich in der Küche einen Rotbuschtee, den die Afrikaner 'rooibos' nennen. Mit Tee und Zigarette setzte er sich auf die Eingangsstufe und schaute dem Abend ins Gesicht.

      Der zunehmende Halbmond stand schief am Himmel, nahm seinen Weg und schwieg sich aus, wie es die Sterne über ihm taten. Warum Mond und Sterne schwiegen, blieb ihm ein Rätsel, wo es soviel zu erzählen gab. Da knatterte in der Ferne ein MG, als wäre das des Rätsels Lösung. Er sah in das helle Halb des Mondes und ein Gnomengesicht, das ihn verlachte, weil er so naiv war, den Nachthimmel zum Sprechen zu bringen, wo es doch soviel mehr zu sehen gab. Ihn zu fragen, was am Tage auf der Erde ablief, das war absurd. So etwas Kleines fragt man nicht den Grossen. Er liess das Fragen sein