Название | Freie Republik Lich - 2023 |
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Автор произведения | Stefan Koenig |
Жанр | Языкознание |
Серия | Zeitreise-Serie |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783753191294 |
„Sollten wir mal machen“, antwortete ich.
„Allerdings haben wir das Waldschwimmbad gerade hier um die Ecke“, sagte sie schmunzelnd.
„Bist wohl ein bissi faul.“
„Bei dem schwülen Wetter schon“, gestand sie.
Ich prostete Stella zu, wir stießen an und nahmen einen Schluck Chianti. Ich sah Stella nachdenklich an, während sie versonnen auf ihr Glas schaute. Chianti, mein guter traditioneller Lieblingsrotwein, noch aus der Zeit, als die erste Pizzeria in Deutschland eröffnet worden war. Aber Stella hatte diese Zeit nicht erlebt, uns trennen fast fünfundzwanzig Jahre.
Auch ich schaute jetzt auf mein Glas, fast ein wenig betreten wegen der immer wieder aufkommenden Gedanken, wenn mir unser Altersunterschied bewusst wurde. Unsere Gläser waren halbleer oder halbvoll; hier griff wieder einmal das Sprichwort vom Blickwinkel. Was wir kurze Zeit später sahen, war jedoch – ich möchte es vorweg betonen – nicht diesem Gläschen Rotwein geschuldet.
Ich liebe das italienische Essen und Stella nicht minder. Als Dessert holte ich in der gegenüber liegenden Eisdiele das von meinen italienischen Freunden selbst kreierte Stracciatella-Eis; einfach köstlich. Als ich in unserer Lounge-Ecke neben meiner Liebsten auf dem Balkon wieder Platz genommen hatte, sah ich das erste Mal diese komische Naturerscheinung. Und plötzlich spürte man sie auch. Wie aus heiterem Himmel fauchte ein Wind durch die Bäume, und am Horizont zog blitzschnell auf breiter Front ein rabenschwarzes Gewitterband auf. Es war plötzlich einfach da. Und dann bewegte es sich langsam aber stetig auf uns zu. Kurze Zeit später schien es dort, wo es war, zu verharren. Der starke Wind legte sich abrupt. Jetzt lastete mit einem Mal wieder diese drückende Hitze auf uns.
„Diese Gewitterfront ist uns jetzt ziemlich nahe“, meinte Stella.
„Das Wolkenband dürfte genau über der Langsdorfer Höhe liegen“, antwortete ich.
Gerüchteweise hatte Stella vor zwei Tagen von einem ihrer älteren Dauerkunden, einem siebzigjährigen Stadtverordneten, etwas unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit erfahren. Optiker, Physiotherapeuten und andere Gesundheitshandwerker sind mehr oder minder psychologische Ratgeber. Und sie sind – ähnlich wie Ärzte – hervorragende Ausheul-Objekte. Manche Patienten beziehungsweise Kunden tun sich, nebenbei bemerkt, auch gerne etwas wichtig. Der Christdemokrat Detlef Hofbauer saß als Vorsitzender des städtischen Bauausschusses an einer der entscheidenden Stellen. Zweifellos ein wichtiger Mann.
„Er muss ja schließlich wissen, ob die Sache Hand und Fuß hat“, antwortete Stella auf meine Frage, ob das ernst gemeint sei. Ein großes Bauvorhaben sei am Start – und zwar ginge es genau um jenen Naturabschnitt, über dem jetzt das furios anmutende Gewitterband drohend zum Stillstand gekommen war. Ein Lager- und Verteilzentrum mit 110.000 Quadratmetern Lagerfläche sei dort geplant.
„So viele Quadratmeter? Du hast dich gewiss verhört“, sagte ich ungläubig.
„Keine Ahnung. Aber damit du es weißt: Ich höre eigentlich sehr gut. Die Sache, so sagte er, würde noch intern diskutiert. Deshalb habe er mir dies lediglich »inoffiziell« mitgeteilt, wie er es ein wenig nebulös formulierte.“
Stella schaute mich abwartend an, aber ich starrte gebannt in den Himmel. Das merkwürdige Wolkenband bewegte sich keinen sichtbaren Meter. Natürlich kann man das auf solch eine Entfernung nicht wirklich exakt feststellen. Aber ich hatte mir die Kreuzspitze auf dem Turm der Sankt Paulus Kirche gemerkt. Die Wolken hingen immer noch genau in der alten Position wie festgenagelt.
Ich schaute zu Stella, die jetzt einen fast prüfenden Blick auf mich warf. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte ihr nicht zugehört. Aber Zuhören war eine meiner Spitzeneigenschaften. „Und weiter?“, fragte ich.
„Na ja, ich hätte ja dort kein Grundstück, wie er wüsste, und damit sei ich keine der Betroffenen, die unberechtigter Weise gleich in Panik ausbrechen würden. Deshalb möge ich bitte kein Wort gegenüber anderen äußern und so weiter. Außerdem glaube er, dass ich gewiss die Schaffung neuer Arbeitsplätze befürworte. Auch gegen eine grandiose Erhöhung der Gewerbesteuereinnahmen für die Stadt und somit für uns Bürger habe ich sicherlich nichts einzuwenden.“
„Du hast zustimmend genickt, wie ich dich kenne“, warf ich ein.
„Na klar. Deshalb war er ja sehr gesprächig und unterbreitete mir dabei tatsächlich so etwas wie eine Familienplanung, die er mir subtil ans Herz legte. Später, zu einer Zeit, wenn ich vielleicht einmal eine Familie gründen und Kinder haben würde – na, wann wird es denn soweit sein, junge Frau?, hat er gefragt – könnten aus diesen Mehreinnahmen die Kindergärten und Schulen modernisiert, digitalisiert und personell besser ausgerüstet werden.“ Stella hatte es mit dem mir so sexy anmutenden Amüsement, das um ihre schönen Lippen spielte, berichtet.
Ich musste laut lachen und sagte: „Und morgen erzähle ich Ihnen ein anderes Märchen, junge Frau.“ Ich ahmte die wichtigtuerische Stimme eines Christdemokraten nach, wenn er sich besonders versiert fühlt. Wenn ich mich recht erinnere, traf ich die sonore Stimme des Herrn Altmaier.
Stella ergänzte: „Und wenn Sie nicht gestorben sind, Herr Stadtverordneter, dann leben Sie noch lange und dürfen das von Ihnen angerichtete Naturdesaster ausbaden.“
„Naturdesaster?“, warf ich ein. „Wir wissen doch nichts! Rein gar nichts. Da sollten wir das Inferno nicht an die Wand malen!“
Stella schaute mich an und sagte trocken: „110.000 Quadratmeter!“
„Bin ja nicht begriffsstutzig“, entgegnete ich. „Dafür sind Ausgleichsflächen vorgesehen, glaube ich.“
„Hier in Lich?“
„Was weiß ich.“
„Wo etwas gelagert und verteilt wird, wird etwas angeliefert und abgeholt. Ein dauerndes Kommen und Gehen. Machen das die unsichtbaren Geisterfahrzeuge der Heinzelmännchen?“
Ich stöhnte auf. Sie hatte ja, wie immer, so recht. Wir gingen zum Schmusen ins Wohnzimmer. Urlaub eben. Wenigstens ein- oder zwei- oder drei Mal im Jahr, sorry, ich meine natürlich im Monat. Wir waren eingeschlafen und als wir eine Stunde später aufwachten, erinnerten wir uns der Gewitterwolken und eilten nach draußen, denn wir hatten vor lauter liebesbedürftigem Eifer vergessen, den Tisch abzuräumen und den Sonnenschirm zusammenzuklappen. Aber alles war trocken und windstill, und der italienische Chianti stand immer noch stolz und aufrecht neben meinem Glas. Stella und ich blickten zeitgleich nach oben Richtung Osten – der Himmel war hellblau und völlig frei von irgendwelchen Wolken.
Komisch, dachte ich. Sehr komisch.
Genau eine Woche später, am 12. Juli, erschien ein erster offizieller Hinweis auf das geplante neue Verteilzentrum im Licher Wochenanzeiger: »Lagerhallen statt Ackerflächen – SPD nimmt Entwicklung der Gewerbegebiete in Blick – Unfallschwerpunkt auf B467 durch mehr LKW?«
Ich las den Artikel durch, mehr widerwillig als interessiert. Da standen nun tatsächlich die 110.000 Quadratmeter drin und fünfhundert neue Arbeitsplätze würden geschaffen und die Stadt würde zwei Millionen Verlust durch den Verkauf der Fläche wettmachen – ein Verlust, der ihr durch die unbewirtschaftete Natur dort entstehe. Unbewirtschaftete Natur verursacht Kosten?, zuckte es durch meinen Kopf.
„Verstehe das wer will“, sagte ich zu Stella.
„Versteht kein Mensch! Wer hat da wieder irgendwelche Zahlen zusammengerechnet, um auf ein ominöses Minus von zwei Milliönchen zu kommen? Nur um damit zu sagen, wir sollten froh sein, wenn da jemand einen Monsterklotz hinbaut. Im Erfinden von Schein-Legitimationen sind unsere bundesdeutschen Politiker traditionell Spitzenklasse! Denk mal an Stuttgart 21 oder andere Monsterwerke!“