Название | Kleinstadt-Hyänen |
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Автор произведения | Gesa Walkhoff |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754176313 |
„Warum hast du das immer behauptet?“, fragt Ilias gepresst. „Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt?“
Nephele sieht, wie ihrem Sohn Tränen in die Augen steigen. Ilias dagegen scheint es nicht einmal zu bemerken. Obwohl er schon seit Jahren nicht mehr geweint hat – jedenfalls nicht vor ihr – und immer den coolen Jungen hat heraushängen lassen, schert er sich jetzt nicht darum, seine Gefühle zu zeigen. Er scheint zutiefst verstört zu sein. Sie kann ihn verstehen und das Bewusstsein ihrer Schuld verursacht ihr einen riesigen Druck im Magen. Sie hat ihrem Sohn den Vater vorenthalten. Auch, wenn sie gute Gründe dafür hatte, das zu tun, weiß sie doch, dass es unverzeihlich ist. Jedenfalls in Ilias‘ Augen. Trotzdem versucht sie, sich zu erklären. „Ich wollte dich beschützen.“
Ilias‘ Reaktion überrascht sie nicht. Wut blitzt in seinen Augen auf. Hilflose Wut über so ziemlich den schlimmsten Verrat, den man an seinem Kind begehen kann. „Davor, dass mein Vater im Knast sitzt? Na und?“, faucht er seine Mutter an. „Ist er deshalb kein Mensch? Kein Vater?“, fragt er wütend und verletzt.
Nein, das ist er nicht, antwortet Nephele ihm im Stillen. Im nächsten Moment fragt sie sich, woher sie das Recht nimmt, sich da so sicher zu sein. Vielleicht hat Karl sich geändert? Vielleicht hat er irgendwo tief in seinem Inneren eine Seite entdeckt, die es ihm ermöglicht, ein fürsorglicher Vater zu sein? Doch ihre Zweifel währen nur kurz. Schon im nächsten Moment realisiert Nephele, wie sich alles in ihr dagegen sträubt, diesen Gedanken auch nur für möglich zu halten. Niemals, denkt sie bei sich, niemals kann ein Mensch wie Karl wahre Gefühle für einen anderen Menschen empfinden. Das ist völlig undenkbar. Aber wie soll ich das meinem Sohn vermitteln? Wenn ich ihm erklären müsste, was für ein Mensch sein leiblicher Vater tatsächlich ist – wäre das nicht unvorstellbar grausam? Würde Ilias mir überhaupt glauben? „Er ist nicht umsonst im Gefängnis“, antwortet Nephele ruhig.
Ilias zieht die Augenbrauen in die Höhe und schaut seine Mutter mit wissender Miene an. „Das weiß ich. Er hat es mir geschrieben“, entgegnet er mit fester Stimme. Er zögert einen winzigen Moment, dann fügt er mit fast ebenso fester Stimme hinzu: „Er hat jemanden umgebracht.“
Unwillkürlich lacht Nephele auf. Im nächsten Moment realisiert sie, dass Ilias ihre Reaktion nicht würde einordnen können. Schnell täuscht sie einen Hustenanfall vor. „So kann man das auch sagen“, entgegnet sie anschließend mit belegter Stimme.
Ilias schaut sie abwartend an, doch mehr ist sie nicht bereit zu sagen. Deshalb ergreift ihr Sohn nun wieder das Wort. „Jeder kann mal einen Fehler machen“, erklärt er ihr von oben herab. Dabei bemüht er sich den Anschein zu wecken, als sei er in der Lage, erwachsen und abgeklärt mit dieser Information umzugehen. Nephele weiß, nein, sie hofft, dass das nur vorgetäuscht ist und diese Reaktion seiner berechtigten Wut auf sie entspringt. Auf einmal muss sie tatsächlich husten. „Hat er das etwa geschrieben?“, fragt sie in ungewollt sarkastischem Ton.
„Nein“, gibt Ilias zu. „Aber er hat geschrieben, dass er seine Tat bereut. Und dass er bereut, mir kein besserer Vater gewesen zu sein.“
Nephele möchte sich jetzt wirklich gerne übergeben. Ihr Sohn jedoch durchbohrt sie derart mit seinem prüfenden Blick, dass sie nicht wagt, zu zeigen, was sie wirklich denkt und fühlt. Sie ahnt, dass das in dieser Situation fatal wäre. Zurzeit hat sie nicht den Hauch einer Chance, Ilias klarzumachen, was sein Vater für ein Mensch ist. Der Zeitpunkt für eine derartige Offenbarung wäre denkbar schlecht gewählt. Darüber hinaus kann sich Nephele immer noch nicht davon überzeugen, dass Ilias wirklich wissen sollte, von was für einem Monster er abstammt. Wenn ich diese Büchse öffne, denkt sie bei sich, werde ich die Übel, die ihr entweichen, niemals mehr eingefangen können. Was ist, wenn Ilias mit der Wahrheit nicht umgehen kann? Die Folgen wären unabsehbar!
Nephele weiß, dass sie jetzt nur eine Sache tun kann, nämlich Ruhe bewahren und auf Zeit spielen. Vielleicht kann ich das Unheil später noch irgendwie abwenden und die Frage danach, wer der Erzeuger meines Sohnes ist, dorthin verbannen, wo sie hingehört, nämlich in das Nirwana jener Informationen, für die sich niemand interessiert, überlegt sie. Faktisch gesehen spielt es doch ohnehin keine Rolle. Wir sind immer alleine klargekommen, denkt sie. Dass Karl in den Knast wanderte, und zwar für lange Zeit, war das Beste, was uns passieren konnte.
Nephele versucht, ihren inneren Aufruhr unter Kontrolle zu bringen, sodass sie nach außen hin ihre gewohnte Selbstsicherheit zeigen kann. „Ich hielt es damals für das Beste, ihn aus unserem Leben herauszuhalten, Ilias. Als du geboren wurdest, saß Karl bereits im Knast. Ich hatte keinerlei Kontakt zu ihm und den wollte ich auch nicht haben. Darüber hinaus hätte es für mich überhaupt keinen Sinn gemacht, dich damit zu belasten, dass dein Vater ein Schwerstkrimineller ist.“
Völlig unerwartet spürt Nephele, wie in ihr auf einmal lang unterdrückte Gefühle aufsteigen, als sie zum ersten Mal über das spricht, was sie siebzehn Jahre lang allein mit sich herumtragen musste. Wie nah ihr die Vergangenheit plötzlich ist! Sie hatte geglaubt, dass sie mit der Zeit Abstand zu diesem dunkelsten Kapitel ihrer Vergangenheit gefunden hat. Dabei war sie immer gegenwärtig, wird ihr bewusst. Karls Schatten hat uns all die Jahre begleitet. Plötzlich steigt Panik in ihr hoch. Raus! Bloß raus aus diesem Zimmer, sagt ihr der Verstand. Bevor alles aus mir herausbricht und ich mich um Kopf und Kragen rede. Ich muss nachdenken. Ich muss einen Plan schmieden, wie ich meinen Sohn beschützen kann. Ich darf nicht zulassen, dass uns die Vergangenheit einholt und ins Verderben zieht!
Nephele spürt ihre Beine kaum, als sie langsam aufsteht. Sie hofft, dass sie es schaffen wird, ohne zu schwanken das Zimmer zu verlassen. Sie lächelt Ilias zu und geht zur Tür.
Ihr Sohn ruft hinter ihr her: „Ich bin alt genug, das selbst zu entscheiden!“
Nephele weiß, dass das nicht stimmt. Aber auch das sollte sie jetzt tunlichst nicht sagen. Mühsam beherrscht dreht sie sich zu ihrem Sohn um. „Natürlich bist du das, mein Schatz.“ Erneut wendet sie sich zur Tür und will das Zimmer endgültig verlassen. Doch sie kommt nicht weit. Die Worte ihres Sohnes treffen sie wie ein Dolch in den Rücken.
„Er kommt demnächst aus dem Gefängnis und will mich kennenlernen“, verkündet Ilias mit fester Stimme.
Nephele erstarrt. Einen Augenblick später stürzt sie wortlos hinaus.
Thekla
Thekla drückt den Hebel der Mischbatterie über der Badewanne nach unten. Anschließend lässt sie ihre Hand durch dicke Schaumwolken hindurch ins Wasser gleiten. Zufrieden mit der Temperatur zieht sie ihre Hand wieder heraus und schüttelt Wasser und Schaum ab. Sie schlüpft aus ihrer Jeans, dem übergroßen Hoodie und der schwarzen Spitzenunterwäsche. Dann fasst sie ihre langen aschblonden Haare mit einem schwarzen Haargummi zu einem unordentlichen Dutt zusammen und steigt in die Wanne. Langsam taucht sie in das warme Wasser ein, um sich nach und nach an die Temperatur zu gewöhnen. Als sie ganz vom Wasser bedeckt ist und sich behaglich zurückgelehnt hat, greift sie nach der Fernbedienung des Fernsehgeräts, das im Nachbarzimmer an der Wand angebracht ist. Seit sie entdeckt hat, dass sie prima von der Wanne ihres Hotelzimmers aus fernsehen kann, wenn sie die Tür zwischen Bad und Schlaf-Wohnbereich offenlässt und die Halterung an der Wand bis zum Anschlag nach rechts dreht, gönnt sie sich dieses Vergnügen fast jeden Abend. Heute gewährt sie sich sogar noch einen weiteren Luxus. Dafür hat sie sich aus einem Supermarkt in der Stadt eine Flasche Prosecco und eine Schachtel Pralinen mitgebracht. Den Prosecco hatte sie bereits geöffnet, während sie das Wasser in die Badewanne eingelassen hat, und ihn zusammen mit einem Sektglas aus der Minibar und der Pralinenschachtel auf dem Beckenrand abgestellt.
Beim Zappen durch die Kanäle lässt Thekla Spielfilme, Soaps, Talkshows und Dokus links liegen. Das alles interessiert sie heute nicht. Nur bei einer Sendung über Eichhörnchen kann sie nicht widerstehen und schaut einen kurzen Moment lang zu,