Die eiserne Ferse. Jack London

Читать онлайн.
Название Die eiserne Ferse
Автор произведения Jack London
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783754183885



Скачать книгу

alle Sonderwissenschaften zu einer einzigen großen Wissenschaft. Wie Spencer sagt, sind die Grundzüge jeder Sonderwissenschaft teilweise gleichartige Erkenntnisse. Die Philosophie vereinigt das Wissen, das von allen andern Wissenschaften zusammengetragen ist. Die Philosophie ist die Wissenschaft der Wissenschaften, die Meisterwissenschaft, wenn Sie wollen. Wie gefällt Ihnen meine Erklärung?«

      »Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmelte Dr. Hammerfield zögernd.

      Aber Ernst war unerbittlich.

      »Vergessen Sie nicht,« warnte er ihn, »daß meine Erklärung für die Metaphysik verhängnisvoll ist. Wenn Sie jetzt keine Lücke in meiner Erklärung finden, sind Sie später nicht berechtigt, metaphysische Argumente vorzubringen. Sie müssen Ihr ganzes Leben nach dieser Lücke suchen und metaphysisch schweigen, bis Sie sie gefunden haben.«

      Ernst hielt inne. Das Schweigen war peinlich. Dr. Hammerfield war verlegen und zugleich verblüfft. Der scharfe Angriff hatte ihn aus der Fassung gebracht. Diese einfache und direkte Kampfmethode war er nicht gewöhnt. Er sah sich flehend am Tische um, aber niemand sprang für ihn in die Bresche. Ich ertappte meinen Vater, wie er lachend in seine Serviette biß.

       »Es gibt noch eine Art, die Metaphysiker zu widerlegen«, sagte Ernst, als die Niederlage Dr. Hammerfields besiegelt war. »Beurteilen Sie sie nach ihren Werken. Was haben sie für die Menschheit getan, außer daß sie lästige Phantasiegebilde ersannen und ihre eigenen Schatten für Götter hielten. Sie haben zur Erheiterung der Menschheit beigetragen, das gebe ich zu; aber was haben Sie Greifbares für die Menschheit getan? Sie philosophierten, wenn Sie mir den Mißbrauch des Wortes verzeihen wollen, über das Herz als den Sitz der Regungen, während die Wissenschaftler den Kreislauf des Blutes feststellten. Sie redeten von Pest und Hungersnot als Geißeln Gottes, während die Wissenschaftler Kornspeicher bauten und Städte kanalisierten. Sie schufen Götter nach ihrem eigenen Bilde und ihren eigenen Wünschen, während die Wissenschaftler Straßen und Brücken bauten. Sie erklärten unsre Erde für den Mittelpunkt des Alls, während die Wissenschaftler Amerika entdeckten und den Himmelsraum nach den Sternen und ihren Gesetzen durchforschten. Kurz, die Metaphysiker haben nichts, absolut nichts für die Menschheit getan. Fuß um Fuß sind sie vor dem Fortschritt der Wissenschaft zurückgewichen. Ebenso schnell, wie die festgestellten wissenschaftlichen Tatsachen ihre subjektiven Erklärungen über den Haufen warfen, ebenso schnell stellten sie wieder neue subjektive Erklärungen auf, die die letzten wissenschaftlichen Tatsachen einbezogen. Und das werden sie zweifellos bis ans Ende der Dinge tun. Meine Herren, ein Metaphysiker ist ein Medizinmann. Der Unterschied zwischen ihm und dem Eskimo, der sich einen pelzbekleideten, walspeckfressenden Gott macht, besteht nur in einigen tausend Jahren festgestellter Tatsachen. Das ist alles.«

      »Und doch haben die Gedanken des Aristoteles Europa zwölfhundert Jahre lang beherrscht«, verkündete Dr. Ballingford feierlich. »Und Aristoteles war Metaphysiker.«

       Dr. Ballingford blickte sich um und erntete beifälliges Nicken und Lächeln.

      »Ihr Beispiel ist sehr unglücklich gewählt«, erwiderte Ernst. »Sie beziehen sich auf eine sehr dunkle Periode der menschlichen Geschichte. Diese Periode nennen wir in der Tat das dunkle Mittelalter. Es war eine Periode, in der die Wissenschaft von den Metaphysikern vergewaltigt wurde, in der die Physik den Stein der Weisen suchte, die Chemie zur Alchemie und die Astronomie zur Astrologie wurde. Die Herrschaft der Gedanken des Aristoteles ist ein trauriges Kapitel.«

      Doktor Ballingford sah verstimmt aus, dann aber erheiterte sich seine Miene, und er sagte:

      »Wenn ich auch zugebe, daß das schreckliche Bild, das Sie gezeichnet haben, der Wirklichkeit entspricht, so müssen Sie doch gestehen, daß die Metaphysik insofern Gutes bewirkt hat, als sie die Menschen aus diesem dunklen Zeitalter heraus und in die Erleuchtung der glücklichen Jahrhunderte getrieben hatte.«

      »Damit hatte die Metaphysik nichts zu tun«, entgegnete Ernst.

      »Wie?« rief Dr. Hammerfield. »War es nicht ihr Denken und Grübeln, das zu den Entdeckungsreisen führte?«

      »Ach, mein Lieber«, lächelte Ernst. »Ich dachte, Sie wären erledigt, denn bis jetzt haben Sie die Lücke in meiner Erklärung der Philosophie nicht gefunden. Sie stehen nicht auf dem Boden der Wirklichkeit. Aber das ist die Art der Metaphysiker, und ich verzeihe Ihnen. Nein, ich wiederhole: Die Metaphysik hat nichts damit zu tun. Brot und Butter, Seide und Juwelen, Dollars und Cents und, nebenbei, die Unterbindung des Verkehrs auf dem Landwege nach Indien, das waren die Ursachen der Entdeckungsreisen. Mit dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 blockierten die Türken den Karawanenweg nach Indien. Die Kaufleute Europas mußten einen andern Weg finden. Das war der eigentliche Anlaß zu den Entdeckungsreisen. Kolumbus schiffte sich ein, um einen neuen Weg nach Indien zu suchen. Das steht in jedem Geschichtsbuch. Zufällig erfuhr man dabei manches Neue über die Natur, die Form und Größe der Erde, und das ptomeläische System begann seinen Glanz zu verlieren.«

      Doktor Hammerfield schnaufte.

      »Sie pflichten mir nicht bei?« fragte Ernst. »Worin habe ich denn unrecht?«

      »Ich kann meine Behauptung nur aufrechterhalten«, erwiderte Doktor Hammerfield mürrisch. »Es würde jetzt zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wollte man sich in die Sache vertiefen.«

      »Für den Wissenschaftler dauert nichts zu lange«, sagte Ernst liebenswürdig. »Daher erreicht der Wissenschaftler eben sein Ziel. Daher kam er nach Amerika.«

      Ich will nicht den ganzen Abend schildern, obgleich es mir eine Freude ist, mir jeden Augenblick, jede Einzelheit dieser ersten Stunde meiner Bekanntschaft mit Ernst Everhard ins Gedächtnis zurückzurufen.

      Ein prachtvoller Kampf entspann sich, die Geistlichen bekamen rote Köpfe und regten sich auf, namentlich, als Ernst sie romantische Philosophen, Schattenspieler und dergleichen mehr nannte. Und immer wieder wartete er ihnen mit Tatsachen auf.

      »Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« rief er triumphierend, sobald er einen von ihnen zu Fall gebracht hatte. Er strotzte von Tatsachen. Mit Tatsachen stellte er ihnen eine Falle, mit Tatsachen überfiel er sie, mit den Breitseiten von Tatsachen bombardierte er sie.

      »Sie scheinen den Altar der Tatsachen anzubeten«, spöttelte Doktor Hammerfield.

      »Es gibt keinen Gott außer der Tatsache, und Herr Everhard ist ihr Prophet«, zitierte Doktor Ballingford. Ernst lächelte zustimmend.

      »Ich bin wie der Mann aus Texas«, sagte er, und um eine Erklärung gebeten, fuhr er fort: »Ja, der Mann aus Missouri sagt immer: ›Sie müssen es mir zeigen.‹ Der Mann aus Texas aber sagt: ›Sie müssen es mir in die Hand legen.‹ Was beweist, daß er kein Metaphysiker ist.«

      Als Ernst einmal geradezu sagte, daß die metaphysischen Philosophen nie den Wahrheitsbeweis erbringen könnten, fragte Dr. Hammerfield hastig: »Was ist der Wahrheitsbeweis, junger Mann? Wollen Sie uns freundlichst erklären, worüber klügere Leute als Sie sich solange den Kopf zerbrochen haben?«

      »Gern«, antwortete Ernst. Seine absolute Sicherheit irritierte die andern. »Die klugen Leute haben sich den Kopf so über der Wahrheit zerbrochen, weil sie auf der Suche nach ihr ins Blaue gerieten. Wären sie auf dem festen Boden geblieben, so würden sie sie leicht gefunden haben – ja, sie hätten entdeckt, daß sie selbst mit allem praktischen Tun und Denken ihres Lebens eben den Wahrheitsbeweis erbrachten.

      »Den Beweis, den Beweis«, wiederholte Dr. Hammerfield ungeduldig, »ohne Umschweife. Geben Sie uns, was wir solange gesucht haben: den Wahrheitsbeweis. Geben Sie ihn uns, und wir werden Götter sein.«

      Seine Worte und sein ganzes Benehmen zeigten einen unhöflichen, höhnischen Skeptizismus, an dem jedoch die meisten bei Tische heimliches Gefallen fanden. Nur Bischof Morehouse schien aufgebracht.

      »Dr. Jordan Ein bekannter Pädagoge vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Er war Recktor der Stanforder Universität, ein Wohltäter der Menschheit seiner Zeit. hat es ganz klar ausgesprochen«, sagte Ernst. »Sein Wahrheitsbeweis ist: ›Wird es wirken? Willst du dein Leben daran wagen?‹«

      »Pah!«