Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien. Leo Deutsch

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Название Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien
Автор произведения Leo Deutsch
Жанр Социология
Серия gelbe Buchreihe
Издательство Социология
Год выпуска 0
isbn 9783754172889



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die Politik unseres großen Nachbarreiches. Unter diesen Umständen ist es aus politischen Rücksichten wichtig, dass den Wünschen der russischen Regierung entsprochen werde. Sollte die Auslieferung dennoch versagt werden, so würde das Auswärtige Amt und die Diplomatie die Verantwortlichkeit für die Rückwirkung der Versagung auf die Beziehungen des Reiches zu Russland ablehnen müssen.‘ So weit Fürst Bismarck. Ich füge hinzu, dass von uns während der letzten fünf Jahre nur drei russische Revolutionäre über die russische Grenze ausgewiesen worden sind, und zwar waren dies zweifellose Anarchisten, die wir selbst nicht behalten konnten, und deren Übernahme wir auch anderen Ländern nicht zumuten konnten.

      Siehe Band 157e in dieser gelben Buchreihe

Grafik 1

       Außer diesen drei notorischen Anarchisten, die über die russische Grenze ausgewiesen worden sind, sind noch eine größere Anzahl politisch verdächtiger Personen der Ausweisung als lästige Ausländer verfallen. Aber kein einziger dieser politisch Verdächtigen ist über die russische Grenze abgeschoben worden. Ich erkläre also, dass alles, was hier vorgebracht worden ist über angebliche Liebedienerei der deutschen Behörden gegenüber russischen Behörden, über eine angebliche Schwäche der deutschen Regierung gegenüber der russischen Regierung, – dass das alles der Wahrheit nicht entspricht.“

      * * *

       „Nun ist heute auch gesagt worden, es sei sehr schwierig, zu definieren, wer eigentlich Anarchist sei, und welche Handlungen als anarchistische zu betrachten und zu behandeln wären. In der Theorie mag das schwierig sein, wenn es sich z. B. um die Redaktion eines Gesetzentwurfs handelt. In der Praxis liegt die Sache aber doch bedeutend einfacher. Ich glaube, dass niemand in diesem hohen Hause ist, der daran zweifelt, dass Schriften, wie sie neulich mein verehrter Nachbar, der hier neben mir sitzt, der Herr Justizminister, im preußischen Abgeordnetenhause verlesen hat, einen anarchistischen Charakter tragen. Ich möchte aber auch darauf hinweisen, dass die Bestimmung, auf welche Russen sich die Beobachtungstätigkeit des russischen Agenten zu erstrecken hat, und über wen ihm Auskunft zu erteilen ist, in Deutschland lediglich den deutschen Behörden zusteht. Diese haben die Pflicht, darüber zu wachen, dass der russischen Polizei nicht weiter, aber so weit Hilfe geleistet wird, wie dies der Zweck der solidarischen Bekämpfung des Anarchismus erheischt. Kommen dabei Fehlgriffe vor, so werden sie korrigiert werden. Von Maßnahmen gegen russische Liberale oder gar gegen deutsche Staatsangehörige ist gar nicht die Rede. Es ist noch keinem russischen Studenten, der sich bei uns bilden, der in unseren Hörsälen, in unseren Universitäten der Wissenschaft leben will, irgendwelches Hindernis in den Weg gelegt worden. Die fremden Studenten werden bei uns mit derselben Liberalität behandelt wie die einheimischen. Aber die Entscheidung darüber, was Fremde bei uns tun und was sie nicht tun dürfen, steht der Regierung dieses Landes zu, nicht fremden Nihilisten und ihren Beratern und Helfern von der sozialdemokratischen Partei. Und wenn die fremden Herren sich bei uns so mausig machen, wie sie dies in der letzten Zeit getan haben, wenn sie so impertinente Erklärungen verfassen, wie sie Herr Bebel soeben verlesen hat, und wie sie in der Tat die hiesigen slawischen Studenten unter Führung des Herrn Mandelstamm und Silberfarb vor einiger Zeit vom Stapel gelassen haben, so werde ich dafür sorgen, dass solche Leute ausgewiesen werden. In keinem Lande der Welt würde ein solcher Unfug von Fremden geduldet werden. In keinem anderen Lande würden Fremde sich das herausnehmen. Mitleid und Nachsicht dort, wo sie am Platze sind, Duldung und Schutz für solche, die sich unter unsere Gesetze stellen und sie beobachten, und die sich anständig aufführen. Aber wir sind in Deutschland noch nicht so weit gekommen, dass wir uns von solchen Schnorrern und Verschwörern auf der Nase herumtanzen lassen. Für ein Laboratorium mit nihilistischen Sprengstoffen sind wir zu gut.“

      * * *

      Den „Schnorrern und Verschwörern“ wurde die Quittung bald darauf überreicht: Mandelstamm und Silberfarb mit noch 12 russischen Studenten wurden ausgewiesen. Der Zar wird jetzt überzeugt sein, dass man in Berlin Wert darauf legt, dass die von der russischen Regierung ausgesprochenen Wünsche prompt erfüllt werden.

      „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt!“

      * * *

      Reise nach Deutschland

       Reise nach Deutschland

      Anfang März 1884 reiste ich aus Zürich über Basel nach Freiburg in Baden. Zweck meiner Reise war, eine Partie russischer sozialistischer Schriften, die in der Schweiz gedruckt waren, über die Grenze zu schmuggeln, um sie dann auf geheimen Wegen nach Russland, wo sie natürlich verboten waren, gelangen zu lassen. In Deutschland herrschte damals das Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie; das Zentralorgan der deutschen Arbeiterpartei, der „Sozialdemokrat“, wurde in Zürich hergestellt und musste gleichfalls über die Grenze geschmuggelt werden.

Grafik 52

      Die Bewachung der Grenze war daher sehr scharf, und das erschwerte auch die Versendung der russischen, polnischen und anderen revolutionären Schriften, die in der Schweiz gedruckt wurden, nach Russland. Vor dem Erlass des Ausnahmegesetzes, das heißt bis zum Herbst 1878, war die Prozedur einfach: die Schriften wurden per Post nach einer Stadt in Deutschland nahe der russischen Grenze gesandt und von dort aus auf diesem oder jenem Wege nach Russland geschafft. Seit jener Zeit aber mussten diese Schriften im Reisegepäck über die deutsche Grenze geführt werden, um der Zollrevision zu entgehen, und wurden alsdann aus einer deutschen Stadt nach der russischen Grenze gesandt. Einen solchen Transport zu besorgen, war ich aufgebrochen.

       Mein Reisegepäck bestand aus zwei großen Koffern, die zur Hälfte mit Büchern gefüllt waren, während obenauf Wäsche und Kleider lagen, um die Zollbeamten nicht argwöhnisch zu machen; in dem einen Koffer führte ich Wäsche und Herrenkleider, in dem anderen Damenkleider, die angeblich meiner – in Wirklichkeit nicht existierenden – Gattin gehören sollten. Deshalb war bei der Zollvisitation in Basel auch eine Dame zugegen, die Frau meines Freundes Axelrod aus Zürich. Sie hatte sich sogar erboten, die Koffer weiter zu transportieren, weil sie, im Falle die Polizei Verdacht schöpfen sollte, sich geringerer Gefahr aussetzte als ich. Da aber die Zollvisitation glatt abgelaufen war und ich nicht daran glauben wollte, dass weiterhin irgendwelche Schwierigkeiten entstehen könnten, lehnte ich dieses Anerbieten ab.

      Außer Frau Axelrod hatte mich ein Baseler, der Sozialist G., zur Bahn begleitet, der mich auch mit Informationen versehen hatte, wie ich weiterhin mit meiner gefährlichen Sendung verfahren sollte, er war in diesen Sachen ziemlich beschlagen und hatte schon manchen Transport geleitet. Noch vor einigen Tagen war er auf meine Empfehlung hin mit einem mir bekannten Polen namens Jablonski nach Freiburg gereist, von wo aus sie gemeinsam einen Posten polnischer Schriften versendet hatten.

      Beim Abschied empfahl mir G. einen billigen Gasthof in Freiburg, in nächster Nähe des Bahnhofs, und guter Dinge stieg ich in einen Wagen dritter Klasse.

      Es war ein Sonntag, und der Wagen war von Ausflüglern in ausgelassener Sonntagsstimmung dicht besetzt. Lieder wurden angestimmt, und ungezwungenes Geplauder erfüllte den Raum. Der Schaffner war – wie damals sehr oft auf den deutschen Bahnen, ob es heute noch so ist, weiß ich nicht – ein recht grober und aufgeblasener Patron. Da er bemerkte, dass ich rauchte, schnauzte er mich sofort mit allem Diensteifer an, es sei ein Nichtraucherwagen. Ich entgegnete ihm höflich, ich hätte die Aufschrift nicht bemerkt, warf meine Zigarette fort und erklärte, ich werde nicht rauchen, da ich nicht weit reise. Der Mann bestand trotzdem in aufdringlicher Weise darauf, dass ich den Wagen wechsle. „Ein schlechtes Omen“, fuhr es mir, wie ich mich heute noch erinnere, bei dieser Geschichte durch den Sinn. Ich war schlecht gelaunt, fühlte mich unbehaglich, gereizt. Dabei war das Wetter schauderhaft, kalter Regen rieselte herab, und das wirkte mir auf die Nerven.

      Der Zug setzte sich in Bewegung, und ehe ich mich dessen über meinen griesgrämigen Grübeleien versah, waren wir in Freiburg. Es war gegen 7 oder 8 Uhr abends. Auf dem Perron angelangt, suchte ich den Hausdiener des „Freiburger Hofes“ und übergab ihm mein Handgepäck und den Gepäckschein. Er bemerkte sofort das in dem Scheine