Название | Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien |
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Автор произведения | Leo Deutsch |
Жанр | Социология |
Серия | gelbe Buchreihe |
Издательство | Социология |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783754172889 |
„Ich verstehe Sie wirklich nicht! Wollen Sie mir, bitte, sagen, wo ich mich eigentlich befinde? Wozu man mich hergeführt hat?“
„Hier ist das Büro der Gendarmerieverwaltung; man hat Sie hergebracht, um Sie zu verhören, und wird Sie wohl bald zum Staatsanwalt führen. Ich dagegen möchte nur mit Ihnen plaudern und alte Erinnerungen auffrischen; wir haben viele gemeinsame Bekannte.“
„Woher kennen Sie mich denn?“ fragte ich verwundert.
„Aber ich bitte Sie“, rief er lächelnd, „es gibt wohl in ganz Russland kaum einen intelligenten Menschen, der Sie dem Namen nach nicht kennen würde!“
Der Herr schien sich selbst also der „Intelligenz“ zuzuzählen, jener Schicht der russischen Gesellschaft, die gerade zu jener Zeit in den besten russischen Zeitschriften gegen die reaktionäre Strömung sich verteidigen musste. In Anbetracht der russischen Pressverhältnisse war es sogar üblich, wenn man von den Revolutionären sprach, sie harmlos als „die Intelligenz“ zu bezeichnen.
„O, wir haben viele gemeinsame Bekannte“, fuhr der Oberst fort. „Ich habe alle Ihre Genossen gekannt: Malinka, Drebjasgin, Maidanski. Ich war früher Gendarmerieadjutant in Odessa und habe sie dort alle kennen gelernt. Das waren wirklich prächtige Menschen!“
Jetzt begriff ich, warum dieser Herr trotz seiner Jugend bereits Oberst in dem Gendarmeriekorps der Hauptstadt war. Die großen politischen Prozesse gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre boten vielen Gendarmerieoffizieren und Staatsanwälten Gelegenheit, schnell vorwärts zu kommen. Leben und Freiheit der „Staatsverbrecher“ waren der Preis, um die sie Karriere machten. Wahrscheinlich hatte auch dieser Herr keine geringe Rolle bei der Verurteilung meiner Genossen zum Tode und zu Zwangsarbeit gespielt, derselben Menschen, denen er jetzt Lob spendete! Vielleicht war er der Urheber des genialen Gedankens, mit Hilfe des Verräters Kurizin den Opfern Fallen zu stellen. [Kurizin war infolge des Attentates gegen Gorinowitsch verhaftet worden und wurde zum Verräter, was jedoch die übrigen Verhafteten nicht wussten. Man schloss ihn mit den Verhafteten in eine Zelle, damit er sie aushorche. Auf diese Weise hat er einige Leute den Henkern ausgeliefert, andere mussten seinen Verrat mit vielen Jahren Zwangsarbeit in Sibirien büßen. Soviel ich weiß ist er jetzt irgendwo als Tierarzt angestellt.]
Die Unterhaltung mit dem liebenswürdigen Obersten kam nicht recht in Fluss, und ich war froh, als man mich rief.
* * *
Verhör in Bezug auf die Ermordung des Generals Mensenzeff
Verhör in Bezug auf die Ermordung des Generals Mensenzeff
Ich wurde in ein komfortabel eingerichtetes Zimmer geführt, wo Staatsanwalt Kotljarewski auf einem Fauteuil vor einem großen Tische saß und in Akten blätterte.
„Ich habe hier einige Schriftstücke, die sich auf Sie beziehen“, erklärte er mir und begann vorzulesen.
„Anfangs August 1878“, las er, „hat die Witwe des ermordeten Barons Heyking, Adjutant des Gendarmeriekorps, in der Nähe der Wohnung des Generals Mesenzeff zwei junge Leute bemerkt, die dem General auflauerten ...“ [Mesenzeff, General der Gendarmerie, ist am 17. August 1878 von den Revolutionären auf offener Straße in Petersburg getötet worden.] Einen dieser jungen Leute nun wollte die Baronin in mir wiedererkannt haben. Am nächsten Tage will sie die beiden abermals auf der Lauer gesehen haben, als sie mit ihrem Cousin, dem Baron Berg, spazieren ging. – Dann kam ein Schriftstück, in dem der Baron Berg die Aussagen der Dame bestätigte.
Es gab eine Zeit – im Jahre 1878 und 1879 –, wo meine Person die Phantasie zahlreicher Menschen aufs lebhafteste beschäftigt haben muss, und viele gaben sich dazu her, mir die Urheberschaft oder die Teilnahme an Vorgängen, die damals an allen Enden Russlands vorkamen, anzudichten. Diese Phantasien fanden den Weg auch in die Presse, und ich selbst war zuweilen erstaunt, wenn ich in den Zeitungen las, was ich alles zuwege gebracht haben sollte; ich kam mir vor wie der leibhaftige Rinaldo Rinaldini (Rinaldo Rinaldini ist eine literarische Figur aus Christian August Vulpius’ Roman Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann, der 1799 in Leipzig in drei Bänden erschien). So weiß ich mich zu erinnern, dass am 25. Mai 1878, als ich noch im Kerker saß, in Kiew eine reiche Gutsbesitzerin ermordet wurde; es handelte sich wohl um einen Raubmord. In der darauffolgenden Nacht wurde Baron Heyking erschossen, und in der Nacht vom 27. auf den 28. Mai floh ich mit zwei Genossen aus dem Gefängnis. Bald konnte ich in den Zeitungen lesen, dass nach Ansicht besonders scharfsinniger Leute sowohl die Gutsbesitzerin als der Baron Heyking von keinem anderen umgebracht sein können als von mir selbst! Danach hätte ich also zweimal das Gefängnis verlassen müssen, um in den beiden Nächten zwei Menschen umzubringen, wäre jedes Mal wieder in den Kerker zurückgekehrt, um schließlich in Gesellschaft zweier Kameraden zu verduften.
Auf dem gleichen Niveau absoluten Unsinns befand sich die Aussage über meine Teilnahme an dem Attentat gegen General Mesenzeff. – Nachdem Kotljarewski mir die Schriftstücke verlesen, fragte er, was ich dazu zu sagen hätte.
„Es scheint, dass die Regierung den Plan nicht aufgibt, mich in Sachen zu verwickeln, die im Auslieferungsvertrag nicht erwähnt sind“, sagte ich. „Ich weigere mich also, irgendwelche Fragen zu beantworten, die sich auf andere Anklagen beziehen.“
„Nun, wenn Sie die Aussage verweigern, lassen wir das“, meinte in aller Seelenruhe Kotljarewski und klappte seine Akten zusammen. „Ich kann Ihnen übrigens sagen, dass ich den Aussagen dieser Herrschaften gar keine Bedeutung beimesse. Soviel ich weiß, waren Sie bereits im Auslande, als Mesenzeff ermordet wurde.“
Ich bejahte. Er schien große Lust zu haben, mich trotzdem noch zu Aussagen in dieser Angelegenheit zu bewegen, da ich aber darauf nicht einging, begann er bald über gleichgültige Dinge zu plaudern. Unter anderem wollte er auch unsere sozialistische Propaganda und unsere Anschauungen erörtern, als ich ihm aber einige Schnitzer nachwies, gestand er, dass ihm unsere Schriften unbekannt waren.
* * *
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