Название | Amnesia Orange |
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Автор произведения | Martin Rose |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742744234 |
Ich blickte aus dem Fenster und sah in der Ferne die Insel der niedlichen Wolkenkratzer mit schichtweise erhellten und verdunkelten Etagen und mit rot blinkenden Lämpchen auf den Funkmasten der Dächer. Auch sah ich die kleinen roten Lichter der Flugzeuge, die sich näherten und entfernten und an der aus dem trüben Nichts wie eine Pappeloase sich hervorhebenden Ansammlung von Hochhäusern vorbeizogen. Im Inneren des Zuges hatten sich die Lichtverhältnisse nicht wesentlich verändert, seit wir die Katakomben von Hauptbahnhof tief verlassen hatten, lediglich ein neonblasser Schimmer durchbrach bei der Durchfahrt eines Provinzbahnhofes das ansonsten vorherrschende matte Gelb unseres Abteils.
Sebald hatte seine Sitzposition lange Zeit kaum verändert, die Beine gelegentlich ausgestreckt, einmal hatte er den Hut hochgehalten und sich an einer hinteren Stelle des Schädels gekratzt, ansonsten hatte er sich nach wie vor kaum gerührt und seinen Mantel nicht ausgezogen. Nun sah ich zu ihm herüber, sah, dass sein Oberkörper leicht vornüber gekippt war und mit den Erschütterungen der Unebenheiten des Gleisgeflechts ab und zu ein bißchen wippte. Ich meinte, seine Augen zu sehen, die bei genauer Betrachtung von den Lidern überzogen sein konnten, es war nicht zu unterscheiden im dumpfen Matt der gelben Beleuchtung. Als auch ich mich nach vorne beugte, um an Sebald näher heran zu kommen, richtete er sich unverrichteter Dinge auf, öffnete die Augen, blinzelte ein paar wenige Augenblicke orientierungslos in den kleinen Raum, sah zu mir herüber, sah mir in die Augen noch mit dem Anblick des Erschrockenen, und er lächelte, er lächelte mich an, zog seinen Mantel ein wenig zurecht, richtete sich vollends auf und streckte seinen Oberkörper, streckte die Arme von sich, warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und sah, dass der Tag sachte aufdämmerte.
Ich blickte erneut zu Sebald herüber, und weil er meinen Blick fragend erwiderte, sagte ich: „Sie ähneln sehr einem Autor, von dem ich einen Roman dabei habe“, und ich hob das Buch, hielt ihm den Titel entgegen, und fragte: „Kennen Sie den?“ Sebald blickte ein wenig bemüht auf den Buchdeckel, er beugte sich vor, da ich ihn vermutlich in keinem günstigen Winkel hielt, dann schüttelte er den Kopf, sagte: „Habe ich nie gehört. Aber Sie glauben ja gar nicht, für wen man mich schon alles gehalten hat: für Einstein, für einen altmodisch auftretenden Arzt, für einen Professor der Raumfahrttechnik. Mit all dem habe ich nichts am Hut, aber es schmeichelt mir, und dank Ihnen bin ich heute zum Schriftsteller gekürt worden.“ Er grinste, streckte seine Beine, seine ganze Körperhaltung erschien mir plötzlich ein wenig ordinär, für Augenblicke. Der Zug blieb stehen, Sebald erhob sich. „Bedauere, dass ich nicht der bin, für den Sie mich halten.“ Er reichte mir die Hand, sie war kalt und samtig. Sebald verschwand im Dämmerlicht des Ganges.
Inzwischen war es taghell geworden, jedenfalls so, wie es an einem grauen Novembertag möglich ist, mit mattem Dunst in der Ferne und sich abhebende Konturen in geringerer Distanz: eine Stahlgitterbrücke, die über eine schmale, baumbewachsene Schlucht führt, Handymasten, die sich wie Markierungsfähnchen verschossener Munition am Schauplatz einer tödlichen Schießerei über das wellige Land verteilen.
Wenn ich aus dem Fenster blickte, sah ich die Welt an mir vorbei schwirren, und ich erahnte an den Rändern meines Blickfeldes ihre Auflösung, ihr Verschwinden. Ich wußte nicht, was mich im Sanatorium erwartete, ich war unentschlossen zwischen Neugier und Skepsis. „Vegetative Dystonie“ hatte Doktor Bernauer, meine Hausärztin, in der Diagnosenzeile der „Verordnung von Krankenhausbehandlung“ eingetragen. Ich war enttäuscht über diese banale und zugleich alle Möglichkeiten offen haltende Diagnose, wie mir schien, es kam mir vor als sei sie unter- und überinterpretiert zugleich. Ich hatte, nachdem ich den Begriff im bebilderten Gesundheitslexikon aus den 60er Jahren nicht gefunden hatte, Doktor Google befragt. In Bruchteilen von Sekunden hatte er für die Begriffspaarung etwa 26.000 Einträge aus den Weiten des Netzes zusammengestellt, die in alle Richtungen wiesen: Angst und Panik, Trauer und Schwermut, Neurosen und Psychosen, zerbrochene Lebensläufe, Strafe Gottes, wenn man wollte, und sogar Wahn.
Ich nahm die Zeitungen zur Hand. Ich blätterte die vorderen Seiten mit dem Habitus der gesättigten Uninteressiertheit vor, innenpolitische Scharmützel und komplizierte internationale Belange wollten mich nicht infizieren an diesem Morgen. Ich hatte zunehmend Gefallen an den kleinen ungewöhnlichen Geschichten gefunden, die sich in den hinteren Seiten befanden, an den Meldungen des Ressorts Panorama, die mich neben den Wissensseiten gelegentlich in Staunen versetzten. Nun las ich einen kurzen Bericht über das Gerichtsverfahren eines Einbrechers: ein Marokkaner war am frühen Abend in eine Wohnung eingebrochen, um sein Ticket zurück nach Marokko zur finanzieren. Nachdem er Laptops, Schmuck und Bargeld eingesammelt hatte, ging er in das Kinderzimmer, in dem die sechs und neun Jahre alten Jungs mit Computerspielen beschäftigt waren. Der Einbrecher erbat die Herausgabe des Kindercomputers, woraufhin der größere Junge in heftigen Protest verfiel. Der Einbrecher versuchte, den Jungen zu überreden, doch der verhandelte und gab dem Einbrecher schließlich 15 Euro anstelle des Computers, womit er sich begnügte unter mit Worten der Entschuldigung die Wohnung verließ.
Ich blickte aus dem Fenster, sah, als der Zug geräuschlos eine weite Kurve fuhr, in der Ferne den Turm des Münsters, der wie ein Fingerzeig Gottes in den Himmel wies. Ich verließ eiligst den Intercityexpress, nachdem er geräuschlos auf das Gleis eingefahren war, und stieg in ein regionales Bähnchen, das mich über Meckbeuren und Kressbronn an den See bringen würde.
Als wir uns vom Bahnhof entfernten, sah ich die Straße in Brüssel vor mir, in der ich aufgewachsen war. Ich sah die sechs oder sieben Häuser auf jeder Seite der stark abfallenden Straße, sah mich aus dem Kinderzimmer blicken auf das gegenüberliegende Haus. In meiner inneren Welt spielte sich jetzt die Szene ab, die ich als Kind aus diesem Blickwinkel beobachtet hatte. Ich war in der Nacht vom Türschlagen eines Autos aufgeschreckt worden, das einzige Geräusch in stiller Nacht in unserer kleinen, bürgerlichen Straße. Ich spürte oder ahnte oder wußte, dass etwas geschah, ich stand auf und blickte hinaus und sah einen blauen Renault 5 vor dem Haus gegenüber stehen, den ich dort noch nie gesehen hatte, und dann bemerkte ich den Schwarzen, einen Jugendlichen, der vermutlich an der Regenrinne hinauf zum Küchenfenster in der ersten Etage geklettert war, und just in diesem Augenblick, da der Fensterflügel sich mit einem dumpfen Knacken nach innen öffnete, erschall der gräßliche Ton der Alarmanlage, die, das war üblich in unserem Viertel, auch bei Anwesenheit der Bewohner in der Nacht eingeschaltet worden war.
Erschrocken sprang der Bursche vom Fensterbrett, ins Auto hinein, rollte ohne Licht und ohne laufenden Motor die Straße hinunter, startete schließlich den Wagen und verschwand in der Seitenstraße. Nur wenige Augenblicke später erschien der Herr von gegenüber, ein Immobilienmakler, der sein Geld im Kongo gemacht hatte, in früheren Jahren. Er stand breitbeinig in der Tür in einen weißen Schlafrock gekleidet, das speckige, tags gescheitelte Haar verwuschelt in alle Richtungen stehend, in den Händen, ein wenig auf seinen runden Bauch abgelegt, ein Schießgewehr mit doppeltem Lauf. Da stand der Nachbar, blickte links die Straße hinunter, rechts hinauf, und dann sah er zu mir, fixierte mich mit seinem Blick, ich winkte.
Am frühen Vormittag klingelten die Gendarmen, sie sagten, ich sei der einzige Zeuge, sie benötigten meine Aussage. Meine Mutter bat die Herren von der Gendarmerie und den Nachbarn herein, sie setzte Kaffee auf und servierte Aachener Printen mit den Worten, dies sei eine deutsche kulinarische Spezialität, sie mögen sie probieren, deutsche Küche sei besser als ihr Ruf, am besten tunke man die Printen in den Kaffee, dann seien sie leichter zu kauen. Die drei Herren interessierten sich nicht für den missionarischen Eifer meiner Mutter. Ich berichtete, was ich sah, und der dicke Nachbar schüttelte immer wieder den Kopf: „Ausgerechnet ein Schwarzer!“, empörte er sich, „dabei