Название | Die Engel am Teufelssee |
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Автор произведения | Marie Louise Lennart |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738071825 |
Ob ich es zu Fuß rechtzeitig bis zum Frankfurter Tor schaffe?, fragte er sich, schob sich die Sonnenbrille ins Haar, schloss sein Zimmer ab und lief die Treppe hinab nach unten. Ein älterer Mann saß am Empfang, grüßte freundlich und nahm den Schlüssel. „Schönen Tag noch“, rief er Jan nach.
Draußen schlug Jan trockene warme Luft entgegen, nicht die feuchte Soße, die es in Freiburg nicht selten gab. Doch es waren bestimmt schon über zwanzig Grad. Er schätzte die Strecke auf knapp zwei Kilometer, wenn überhaupt, das kann man locker zu Fuß gehen, dachte er. Na, dann mal los, und bloß nicht in die falsche Richtung gehen, immer schön an den Zuckerbäckerhäusern der ehemaligen Stalinallee entlang. Apropos Bäcker. Ein schöner großer Kaffee und ein belegtes Brötchen sollten wohl noch drin sein. Sein Magen war nur noch ein großes Loch.
Jan stieg aus dem Fahrstuhl, Kaffeebecher in der einen und den Rest des eher zähen Brötchen mit Käse in der anderen Hand. Hätte er mal in der Palisadenstraße sein Brötchen beim Bäcker gegenüber gekauft, doch da war eine lange Schlange gewesen. Sicher so eine DDR-Reminiszenz, hatte er gedacht und über seine eigenen blöden Gedanken gelacht. Hatte wohl seinen Grund, die Schlange, da musste es einfach gute Sachen geben. Ruckelnd, irgendwie zögerlich, öffnete sich die Fahrstuhltür. Diesmal stand keine zornige Karo vor ihm. Von oben aus dem Turmzimmer hörte er aber Stimmen, die Karos und die von diesem Stubensoundso. Also eine wichtige Miene aufgesetzt und die Wendeltreppe hoch gestiefelt. Das erste, was er sah, waren ausgelatschte Sandalen mit nackten Männerfüßen drin, dann zum Glück die weißen Lederslipper mit Noppensohle, die Karo heute trug. Der Mann saß an dem Platz, an dem Jan gestern gesessen hatte und sah ihn mit kleinen Knopfaugen an. Eine massige Gestalt, Jeans, kariertes Hemd und kakifarbenes Sommerjackett, das er trotz der Wärme hier oben nicht ausgezogen hatte, eine dicke Nase mit einem fast grauen Schnäuzer darunter, tiefer Haaransatz, dickes, ebenfalls bereits fast graues Haar, schätzungsweise Mitte oder auch Ende fünfzig. Vor ihm ein zugeklappter Laptop, drei blaue Schnellhefter, ein Glas Wasser und eine Pfeife nebst Tabak. Typ gemütlicher Dicker, dachte Jan, doch das konnte natürlich täuschen.
Karo stellte sie vor, „Jan Wilhelm Nordhäuser, Diplom-Psychologe, Hans Hubert Stubenrauch, Hauptkommissar, 1. Polizeidirektion.“ Wie Karo das sagte, hörte es sich fast militärisch an. Stubenrauch nickte nur kurz. Jan stellte seinen Rucksack an ein Tischbein und hängte sein Jackett über den Stuhl. Die Balkontüren waren geschlossen, vielleicht sollte er sie öffnen, dachte er, bei der Hitze hier.
„Setzen Sie sich“, sagte der Kommissar. „Können wir also beginnen?“ Er warf Karo einen kurzen Blick zu, dann fixierte er Jan.
„Frau Bartels“, begann er, „hat Ihnen ja bereits die Unterlagen ausgehändigt, sie sind also so weit im Bilde.“
Er sah auf seine Armbanduhr, fixierte sie ein, zwei Sekunden, und fuhr dann fort.
„Etwas zur Klarstellung Ihrer Aufgaben und zu den Notwendigkeiten der polizeilichen Praxis. Herr Dr. Knippschildt, sozusagen Ihr Vorgänger, hat sich nicht eben beliebt gemacht. Er sprach Fachchinesisch und behandelte seine Erkenntnisse wie absolute Wahrheiten. Das hat die Ermittlungen mehr behindert als unterstützt. Wie mir Frau Bartels allerdings versicherte, sind sie ein anderer Typ Wissenschaftler, eher Praktiker als Fachidiot. Nun, wollen wir es hoffen. Ich habe mich natürlich in Freiburg und auch bei den Kollegen des BKA erkundigt, man versicherte mir, dass man ihren Ausführungen im allgemeinen folgen konnte. Also herzlich willkommen im Team.“
Jan warf Karo einen Blick zu, die jedoch dabei war, ihren Laptop in Betrieb zu setzen, sah wieder Stubenrauch an und sagte „Danke.“ Der Kommisassar warf wieder einen langen Blick auf seine Uhr, dann fuhr er fort.
„Sollten sich aber unsere Vorstellungen nicht decken, so trennen wir uns wieder, selbstverständlich gemäß der Vereinbarungen im Vertrag. Ich verlasse mich da ganz auf Frau Bartels.“
Jan nickte. Er fühlte sich wie in einer Prüfung, für die er nicht gelernt hatte. Der Kommissar und Karo lächelten sich kurz an. Hieß das etwa, dachte Jan, dass Karo ihn einfach wieder an die Luft setzen konnte? Er hatte doch nicht die Praxis in Freiburg aufgegeben, um in Berlin ohne Job zu sein! Und schließlich hatte er beim BKA doch wohl gezeigt, dass er als Berater etwas taugt. Aber warum sich rechtfertigen, dachte er noch, als Stubenrauch wieder ansetzte.
„Das Merkblatt für freiberufliche wissenschaftliche Mitarbeiter haben sie ja sicher zur Kenntnis genommen“, begann er wieder in geschäftsmäßigem Ton, „trotzdem aber noch einmal ganz deutlich das Wichtigste. Frau Bartels ist bei allen polizeilichen Maßnahmen weisungsberechtigt, sie dürfen nicht allein ermitteln ohne ausdrückliche Anweisung und keine Waffe tragen. Wenn notwendig und wenn sie es sich zutrauen, dürfen sie einen Verdächtigen vorläufig festnehmen, so wie jeder Bürger, wenn sie den Verdächtigen deutlich darauf hinweisen. Darüberhinaus … ach, lesen Sie sich den Scheiß doch selber durch, Nordhäuser!“
Seine Augen funkelten zornig.
„Zum Fall“, sagte er.
Jan wurde ganz schummerig. Schnell kramte er die Unterlagen aus seinem Rucksack. Natürlich hatte er nicht daran gedacht, einen Stift mitzunehmen. Er fragte Karo, sie schob ihm einen kleinen, silbernen Kugelschreiber rüber.
„Zum Fall“, sagte Stubenrauch noch einmal und fixierte Jan. „Wie Sie wissen handelt es sich, nach dem jetzigen Erkenntnisstand, nicht um Mord, sondern um Suizid. Das Opfer, denn ein Opfer ist es ja in jedem Fall, nicht wahr, heißt Jana Schäfer, 27 Jahre, Verkäuferin, in Berlin geboren und aufgewachsen, seit einem halben Jahr arbeitslos, geschieden, keine Kinder, keinen neuen Partner, Mutter tot, Vater unbekannt. Nach Aussage ihrer Hausärztin litt sie seit ihrer Entlassung zunehmend unter einer neurotischen Depression. Ihr wurden Antidepressiva verschrieben. Keine illegalen Drogen, keine Vorstrafen. Tod durch eine Überdosis handelsüblicher Schlaftabletten, dazu Alkohol. Recht sichere Methode. Aber das wissen sie ja schon aus den Unterlagen.“
Jan nickte. Der Schweiß lief ihm aus den Achselhöhlen und kitzelte ihn an der Hüfte. Karo schien weder ihn noch den Kommissar zu beachten und tippte etwas in ihren Laptop.
„Okay“, sagte Jan, worauf Stubenrauch weitere Fakten herunterspulte, Zeitpunkt des Leichenfundes, Ort, Besonderheiten wie das Laken und das blaue Kleid und die Tatsache, dass es sich offensichtlich nicht um ein Sexualdelikt handelt. Dann machte er eine Pause. Jan fragte sich, ob er etwas sagen sollte, doch es würde wohl besser sein, zu schweigen. Von wegen, gemütlicher Dicker! Endlich fuhr Stubenrauch fort, nicht ohne zuvor wieder seine Uhr zu fixieren. „Wir haben den Fall letztlich nicht zu den Akten gelegt, erstens weil er publik geworden ist, dummerweise, zweitens, weil er im Rahmen des so genannten Normalmodells nicht ausreichend zu erklären ist. Was wir am wenigsten gebrauchen können ist eine Suizidwelle oder noch schlimmer einen Serienmörder, der Gefallen gefunden hat an der Aufbahrung toter Frauen in den Berliner Wäldern.“
Jan nickte. Jetzt bloß nichts sagen, dachte er, bloß nicht. Das Normalmodell war ihm natürlich ein Begriff. Er fühlte sich gleich besser. Im Rahmen eines Normalmodells, sagte er sich in Gedanken auf, wird die ermittelte Spurensituation mit vorgelagerten, ähnlichen Fällen verglichen. Der Täter hat also das getan, was die Ermittler in solchen Fällen erwarten, woraus sich dann meist ergibt, dass der Täter tatsächlich ermittelt wird. Scheint hier aber, schloss er seine Überlegung ab, erst einmal nicht der Fall zu sein.
„Ich sehe“,