Das Dschungelbuch. Rudyard Kipling

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Название Das Dschungelbuch
Автор произведения Rudyard Kipling
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752978360



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hatte das Rudel nun schon ein Jahr lang geführt. In seiner Jugend war er zweimal in Wolfsfallen geraten, und einmal hatte man ihn beinahe erschlagen; deshalb kannte er ein gut Teil von den Sitten und Gebräuchen der Menschen.

      In der Versammlung wurde wenig gesprochen. Mitten im Kreise, um den die Eltern saßen, stolperten und purzelten die Kleinen umher; ab und zu kam ein Altwolf lautlos herbei, sah sich die Jungen genau an, beschnüffelte sie sorgfältig und schritt dann wieder gravitätisch auf seinen Platz zurück. Manchmal schob eine besorgte Mutter ihr Kleines recht weit hinaus in das helle Mondlicht, um ganz sicher zu sein, daß man es nicht übersehen habe. Von seinem Felsen rief Akela immer wieder: »Ihr kennt das Gesetz – ihr kennt das Gesetz wohl! Äuget genau, ihr Wölfe!« Und ängstliche Mütter nahmen den Ruf auf und wiederholten: »Äuget – äuget genau, o Wölfe!«

      Und zuletzt – Mutter Wolfs Nackenhaare stellten sich hoch – zuletzt schob Vater Wolf »Mogli, den Frosch«, in den Kreis. Da saß er lachend und spielte mit kleinen Steinchen, die im Mondlicht glänzten. Akela hob seinen Kopf nicht von den Pranken, sondern wiederholte den eintönigen Ruf: »Äuget – äuget genau!«

      Da kam ein dumpfes Gebrüll hinter den Felsen hervor. Es war Schir Khans Stimme: »Das Junge gehört mir! Gebt es mir! Was hat das freie Volk mit einem Menschenjungen zu schaffen?«

      Akela rührte nicht einmal die Lauscher, er sagte nur: »Äuget wohl, ihr Wölfe! Was geht das freie Volk die Weisung eines Fremdlings an?«

      Da erhob sich im Rate ein Grollen und Murren. Ein junger Wolf im vierten Jahr griff Schir Khans Frage auf und warf sie Akela zu: »Was hat das freie Volk mit einem Menschenjungen zu schaffen?«

      Das Gesetz der Dschungel bestimmt, daß im Falle einer Meinungsverschiedenheit, ob ein Junges im Rudel aufgenommen werden soll oder nicht, mindestens zwei Mitglieder des Rates zugunsten des Kleinen sprechen müssen, doch haben die beiden Eltern keine Stimme.

      »Wer spricht für das Junge?« fragte Akela. »Wer unter dem freien Volke spricht für ihn?«

      Keiner meldete sich, und Mutter Wolf machte sich bereit zu ihrem letzten Kampf – denn sie wußte, daß es ihr letzter sein würde, wenn es zum Kampfe kam.

      In diesem Augenblick stellte sich Balu auf die Hinterbeine und knurrte – Balu, der schläfrige, braune Bär, der die jungen Wölfe das Dschungelgesetz lehrt. Der einzige Fremdling ist er im Rate der Wölfe, er kann gehen und kommen, ganz wie er will, denn er lebt nur von Nüssen, Wurzeln und Honig.

      »Das Menschenjunge, das Menschenjunge?« fragte er. »Ich spreche für das Menschenjunge. Warum denn nicht? Was kann ein Menschenjunges dem Packe schaden? Wie? Schöne Reden halten kann ich nicht, aber ich spreche die Wahrheit. Nehmt ihn auf und laßt ihn mit dem Rudel laufen. Ich selbst werde ihn unterrichten.«

      »Noch einen Fürsprecher brauchen wir!« sagte Akela. »Balus Wort gilt, er ist der Lehrer der Jungen. Wer spricht noch außer Balu?«

      Ein dunkler Schatten fiel in den Kreis. Es war Baghira, der schwarze Panther, tintenschwarz über und über, doch mit der Pantherzeichnung, die in der Seide des Felles zuweilen aufleuchtete. Jeder kannte Baghira, und niemand kreuzte gern seinen Pfad; denn schlau war er wie Tabaqui, stark wie der Büffel und tollkühn wie Hathi, der Elefant, wenn er verwundet ist. Aber seine Stimme war sanft wie wilder Honig, der vom Baum tröpfelt, und sein Fell weicher als Flaumfedern.

      »Du, Akela, und ihr, das freie Volk!« schnurrte er. »Ich habe kein Recht in eurer Versammlung; doch nach dem Dschungelgesetze kann das Leben eines Jungen, dessen Aufnahme bestritten wird, für einen Preis erkauft werden. Und das Gesetz schreibt nicht vor, wer den Preis bezahlen soll und wer nicht. Spreche ich wahr?«

      »Gut, sehr gut!« jaulten die immer hungrigen jungen Wölfe. »Hört, was Baghira sagt! Um einen Preis ist das Junge einzukaufen in das Rudel. So steht's im Gesetz!«

      »Ich habe kein Recht, hier zu sprechen, so bitte ich um eure Erlaubnis!«

      »Sprich nur!« schrien zwanzig Stimmen.

      »Ein nacktes Junges zu töten ist Schmach und Schande. Im übrigen taugt es besser dazu, euch an ihm zu erproben, wenn es erst groß und erwachsen ist. Balu hat gesprochen. Den Worten Balus füge ich nur einen Bullen hinzu – fett, sage ich euch, und eben erst getötet! Keine halbe Meile liegt er von hier, wenn ihr bereit seid, das Menschenjunge aufzunehmen nach dem Gesetz. Leuchtet euch das ein?«

      Da tönte es bunt durcheinander: »Warum sollten wir nicht? Was kann es schaden? Es wird ja doch im Winterregen umkommen oder in der Sonne verdorren. Was kann uns denn so ein nackter Frosch antun? Laßt ihn mit dem Rudel laufen! Wo ist dein Bulle, Baghira! Wir stimmen für den Antrag!«

      Und wieder erklang Akelas heiseres Bellen vom Felsen her: »Äuget, ihr Wölfe! Äuget genau!«

      Mogli spielt versonnen mit den Steinchen; so wurde er es gar nicht gewahr, daß die Wölfe einer nach dem anderen herankamen, um ihn zu beäugen. Dann liefen sie alle den Hügel hinab zu dem toten Bullen, und nur Akela, Baghira, Balu und Moglis eigene Wölfe blieben zurück. Schir Khans Gebrüll erfüllte die Nacht, denn er war sehr zornig, daß man ihm Mogli nicht ausgeliefert hatte.

      »Heule nur!« brummte Baghira in seinen Bart. »Heule nur! Die Zeit wird kommen, dann wird das nackte Ding dir in einer anderen Tonart aufspielen – oder ich weiß nichts vom Menschen.«

      »Gut getan!« sagte Akela. »Menschen und ihre Jungen sind sehr klug. Wer weiß – er kann uns später eine Hilfe werden.«

      »Wahrlich, Hilfe in der Not; denn keiner kann hoffen, das Rudel ewig zu führen«, sagte Baghira.

      Akela antwortete nicht. Er gedachte der Zeit, die für jeden Leiter eines Rudels kommt, wenn seine Stärke von ihm weicht, wenn er schwach und immer schwächer wird, bis zuletzt die eigenen Wölfe über ihn herfallen und ihn reißen. Ein neuer Führer ersteht, bis auch er an die Reihe kommt, getötet zu werden.

      »Nimm das Menschenjunge fort mit dir«, sagte Akela zu Vater Wolf, »und erziehe es, wie es sich ziemt für einen vom freien Volk.«

      ... Und so geschah es, daß Mogli im Rudel der Sioniwölfe aufgenommen wurde um den Preis eines fetten Bullen und auf Balus Fürsprache.

      Zehn oder zwölf Jahre müßt ihr nun überspringen und euch selbst das seltsame Leben ausmalen, das Mogli unter den Wölfen führte; denn alles im einzelnen zu erzählen, würde Bände füllen. Mit den Wolfsjungen wuchs er auf, aber diese waren natürlich schon groß und stark, ehe noch Mogli alle seine Milchzähne hatte. Vater Wolf lehrte ihn alles, was ein Wolf wissen mußte, und weihte ihn in das Leben der Dschungel ein, bis jedes Rascheln im Grase, jeder Hauch der warmen Nachtluft, jeder Ruf der Eule über seinem Kopf, jeder Kratzer von den Krallen der Fledermäuse, wenn sie eine Weile im Baum gerastet hatten, und jeder klatschende Sprung des kleinsten Silberfisches im Teiche – bis dies alles seine genaue Bedeutung für ihn hatte. Und wenn er nicht lernte, dann lag er in der Sonne und schlief und aß und legte sich wieder schlafen. War er durstig oder heiß, schwamm er in den Weihern des Waldes. Hatte er ein Gelüste nach Honig (Balu sagte ihm nämlich, daß Honig und Nüsse mindestens so gut schmeckten wie Fleisch), dann kletterte er in den Bäumen umher, und Baghira zeigte ihm, wie er das tun müsse. Der schwarze Panther war ein verständiger Lehrer. Er sprang zuerst selbst den Baum hinauf, als sei es gar kein Kunststück, streckte sich bequem auf einem Aste aus und rief: »Komm her zu mir, kleiner Bruder!« Anfänglich wollte Mogli sich anklammern wie das Faultier, aber später schwang er sich durch die Baumkronen fast so kühn wie der graue Affe.

      Er hatte bald auch seinen Platz bei dem Ratsfelsen in der Versammlung. Und hier machte er eines Tages die seltsame Entdeckung, daß die Wölfe seinen Blick nicht aushalten konnten. Starrte er einem von ihnen gerade ins Gesicht, so senkte der Wolf die Augen. Und so gewöhnte er sich daran, rein aus Mutwillen, sie anzustarren. Oft aber auch zog er mit seinem kleinen, flinken Händen die Dornen aus den Ballen seiner Freunde, denn Wölfe leiden schrecklich unter Dornen und Splittern in ihren Pfoten und ihrem Fell.