Название | Juwelen, Mörder, Tote - Sechs Extra Krimis Juni 2018 |
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Автор произведения | Alfred Bekker |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742734396 |
„Seit wann bist du in Tanger?“
„Seit vorgestern.“
„Bist du schon aus der Stadt heraus gewesen?“
„Nein.“
„Hab ich mir gedacht...“
„Ich war in der Kasbah und auf dem Markt.“
„Natürlich, da führen sie einen immer zuerst hin.“
„Ich hatte einen offiziellen Führer. Einen mit Ausweis. Die sind gleich am Hafen gewesen.“
„Ja, wie die Hyänen stürzen die sich auf neu angekommene Touristen. Trotzdem: Wenn du an einen offiziellen Führer gerätst, ist das Risiko nicht so groß, an einen Halsabschneider zu geraten.“
„Meiner war ganz nett. Und es war ein offizieller Führer. Er hat mich auch zum Hotel gebracht. Ich habe ihm gesagt, was ich mir leisten kann, und er hat mich hingebracht.“
„Hat er dir auch ein Taxi besorgt?“
„Ja, hat er.“
„Und dir den Geldumtausch besorgt?“
„Ja, hat er auch. Aber woher...?“
„Vielleicht waren das alles seine Cousins: Der Hotelbesitzer, der Taxifahrer...“
„Und wenn schon!“
Sie lachten beide.
„Was suchst du hier in Marokko?“
„Ich habe keine Ahnung.“
Robert gegenüber war sie völlig offen. Es schien, als könnte sie nichts vor ihm verbergen, als würde sich alles in ihr ihm gegenüber von selbst öffnen. Es beängstigte sie ein wenig. Aber sie fühlte sich gut dabei. Und das war doch alles, worauf es im Moment ankam.
Nein, sie beschloss, keine Zweifel zuzulassen, nicht an sich selbst und schon gar nicht an dem Mann, der neben ihr saß.
„Ich wollte mal was anderes sehen“, sagte sie. „Einfach mal was anderes. Sonne, verstehst du?“
„Ich weiß nicht...“
„Bei uns zu Hause gibt es zu dieser Jahreszeit oft noch Schneeschauer... Das ist so trostlos. Irgendwie...“ Sie suchte nach Wörtern, nach Wörtern, die passten und das ausdrückten, was sie empfand. Und dabei stellte sie fest, dass sie selbst sich darüber kaum im Klaren war. Im Grunde genommen hatte sie nur sehr oberflächlich darüber nachgedacht. Und dann war es auf einmal heraus: „Abstand...“, murmelte sie.
Sie sah zu ihm hinüber.
Er saß ruhig am Steuer. Seine Stirn hatte sich ein klein wenig in Falten gelegt. Er hob die Augenbrauen.
„Abstand?“, fragte er.
„Ja.“
„Abstand wovon?“
„Ich weiß nicht, ob dich das interessiert...“
„Doch, es interessiert mich, Elsa. Weil du mich interessierst.“
Das hatte er nett gesagt, fand sie. Und es ging ihr ganz warm den Rücken hinunter.
„Es ist eine sehr persönliche Sache“, sagte sie. „Und sehr unangenehm...“
Sie wurde sich schnell darüber klar, dass er daraus nicht schlau werden konnte. Sie redete einfach so, wie ihre Gedanken kamen, aber wie sollte er das verstehen.
Er sah kurz zu ihr hinüber.
„Eine Liebesgeschichte?“
„Nein.“
„Was dann?“
„Meine Eltern...“
Sie schluckte.
„Was ist mit ihnen?“
„Sie haben sich gerade scheiden lassen. Jetzt, nach so vielen Jahren...“
Sie sah es ihm an, was er dachte. So etwas passiert doch jeden Tag. Jeden Tag dutzendmal, hundertmal, tausendmal... Kein Mensch regte sich über so etwas auf.
„Es hat mich sehr mitgenommen“, fügte sie hinzu, als müsste sie etwas erklären.
„Ich verstehe...“
Er verstand es nicht, davon war sie überzeugt. Aber er tat immerhin so, und das war nett.
„Ich habe immer gedacht, dass zwischen meinen Eltern alles in Ordnung wäre“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dass sie sich früher viel gestritten haben. Ich meine, in anderen Ehen gibt es Gewalt und Alkohol und so etwas - und die werden nicht geschieden...“
„Wie alt bist du?“, fragte er.
„22. Warum?“
„Du bist eine erwachsene Frau.“
Sie glaubte zu verstehen, was er meinte.
„Ja schon, aber...“
„Und deine Eltern sind ebenfalls erwachsene Menschen, nicht wahr?“
„Ich weiß. Mein Verstand weiß das. Mein Gefühl glaubt es nicht. Verstehst du das, Robert? Dass die eine Hälfte von dir etwas weiß, die andere es aber nicht wahrhaben will?“
„Ja.“
Mein Gott, dachte sie. Ich kenne ihn seit gestern Abend, und schon erzähle ich ihm meine ganze Familiengeschichte. Sie hätte noch weiter gesprochen, wenn sie sich nicht plötzlich gebremst hätte.
Sie musste an ihren Arzt denken.
Elsa hatte immer wieder unter psychosomatischen Beschwerden gelitten. Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Hautausschläge und anderes.
Und dann hatte sie dem Arzt plötzlich Dinge erzählt, die ihn eigentlich nichts angingen. Und die auch gar nicht in den Bereich eines Arztes fielen. Von ihren Problemen mit Männern und ihren Eltern und tausend anderen Dingen. Ihrer Angst, das Studium eines Tages ohne Prüfung aufgeben zu müssen.
Sie hatte diese Angst, die Prüfung nicht zu schaffen, schon gehabt, als sie gerade das Abitur hinter sich gebracht hatte. Und vor dem Abitur hatte sie auch Riesenangst gehabt - seit sie das Gymnasium besuchte.
Im Grunde genommen hatte sie ihr ganzes Leben lang Angst davor gehabt, dieses und jenes nicht zu schaffen.
Der Arzt hatte ihr gesagt, dass sie jemanden brauchte, bei dem sie sich aussprechen konnte. Einen Psychotherapeuten. Einer, der dafür ausgebildet war.
„Ich bin doch nicht verrückt!“, hatte sie dem Arzt empört geantwortet. Aber vielleicht hatte der Arzt recht gehabt.
Vielleicht brauchte sie so jemanden. Eine Art Pfarrer, der ihr die Beichte abnahm.
Plötzlich hörte sie Roberts ruhige Stimme. Sie klang warm in ihren Ohren. Warm und sicher.
„Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, erst einmal eine Reise zu unternehmen“, meinte er. „Das lenkt einen etwas ab, nicht wahr?“
„Ja, das stimmt.“
Robert jagte den Landrover die schmale Küstenstraße entlang. Eine Weile schwiegen sie beide.
Dann fragte Elsa plötzlich: „Wie alt bist du eigentlich?“
In diesem Moment kam ein Wagen von vorne. Er schoss um eine unübersichtliche Kurve herum und kam dabei ziemlich weit auf die andere Fahrbahn. Robert musste im letzten Moment ausweichen.
„Idiot!“, schimpfte er vor sich hin.
Auf ihre Frage kam er nicht mehr zurück. Sie fuhren weiter in der Umgebung herum, und auf diese Weise sah Elsa etwas vom Land. Einmal stiegen sie an einer schönen Stelle aus. Ein Steilhang ging zum Meer hinab. Weiter oberhalb lagen