Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

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Название Gesprengter Horizont
Автор произведения Matthias Nelke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783752916461



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klar, Mathilda.«

      »Du hast was für mich«, sagte Mathilda zum zweiten Mal. Dies­mal war es keine Frage.

      Ramón zückte das Etui aus Krokodilleder aus seiner Hosentasche und reichte es rüber. Zuerst dachte er, sie würde es bloß in der Hand wiegen, um zu sehen, ob es den USB-Stick enthielt. Letztlich überprüfte sie es doch.

      »Letzte warme Worte?«

      »Würde ich nicht wissen.«

      »Was soll die Box?«

      »Ein Geschenk? Was weiß ich. Verkaufs, wenn du willst.«

      Sie stellte keine weiteren Fragen. Ramón entspannte sich etwas.

      Sie hüllten sich in konspiratives Schweigen, während sie die Cal­le de Alcalá hinunterschlenderten, scheinbar ziellos. Doch Ramón wusste, dass es noch nicht alles war.

      »Alles ist vorbereitet?«

      Sie hatte ein Talent dafür, Fragen auf eine Art und Weise zu stel­len, die nur eine Antwort zuließen. Etwas, das vom Delegieren kam, wusste Ramón. Er zuckte mit den Schultern und setzte die Sonnen­brille auf, als sie aus dem Schatten der Gebäude traten.

      »Mir wurde gesagt, du wärst jemand, auf den man sich verlassen kann«, sagte Mathilda. »Loyal.«

      »Loyal, kein Köter.« In der in Mathildas Kragen baumelnden Sonnenbrille konnte Ramón sein eigenes Gesicht gespiegelt sehen. Augen, die in der Sonne schwefelgelb leuchteten, dazwischen eine Habichtsnase unter einer schmalen Stirn. Kleine Ohren, fransige, farblose Haare. Ramón wusste, was Leute in ihm sahen. Einen Hund. »Du sagst mir nicht, was ich tun soll.«

      Mathilda lächelte. »Meinetwegen. Beiß die Hand, die dich füttert. Du kannst die rechte Hand sein, oder die Hand, die abgeschlagen wird. Deine Entscheidung.«

      »Du würdest keinen Ersatz finden.«

      »Ein Anruf.«

      »Und wer geht ran? Lebensmüde Kameltreiber? Fanatische Stu­denten?«

      »Ein Anruf.«

      Irgendwo in seinem Kopf, verkümmert hinter einem immer schon zu dominanten Naturell, bemerkte Ramón, dass er provoziert wurde. Vielleicht bemerkte es sogar der Rest von Ramón Ybarra. Nur reagierte er nicht entsprechend.

      Ramón hatte sich geschworen, nicht derjenige zu sein, der die Kontrolle verlieren würde. Nicht schon wieder. Menschen nutzten zu oft Ramóns Unbeherrschtheit aus, um ihre Überlegenheit zu de­monstrieren. Ramón wusste das. Es half nicht. Mit einem blitz­schnellen Schritt schnitt er ihr den Weg ab, sodass sie fast mit ihm zusammenprallte. Ramóns Nasenspitze touchierte ihre Wange.

      »Hör zu, conjo!«, spukte Ramón. »Schlimm genug, dass ich jetzt anscheinend einer Schlampe unterstehen muss, wenn es darum geht, mein eigenes Leben zu opfern, während du dich mit der Asche aus dem Staub machst. Aber stell nicht meine Loyalität infrage. Sonst haben wir ein Problem.«

      Mathilda verlor nicht die Fassung. Kein bisschen. Sie ließ sich ge­duldig vom Wutspeichel beregnen und antworte dann, ohne auch nur einen Zentimeter zurückzuweichen: »Bist du fertig?«

      »Meine Loyalität gilt der Sache. Meinem Land. Der ETA. Nicht deinem Spitznamen.«

      »Ich kann das respektieren«, antwortete Mathilda. »Aber es inter­essiert mich nicht. Du wusstest, welche Rolle hier für dich vorgese­hen war.«

      Ramón schwieg, Mathilda hatte getroffen.

      »Und da ich vermutlich tatsächlich niemanden finden werde, der das von sich behaupten kann, müssen wir wohl miteinander aus­kommen.«

      Bevor Ramón antworten konnte, stand jemand neben ihnen. Ei­ner der Hutträger. Diesmal in rot und so klein, dass selbst die klein­gewachsene Frau auf ihn herabblicken konnte. Doch das schien den Hut nicht einzuschüchtern, denn er blieb, auch als die eiskalten Bli­cke der beiden, die noch bis gerade in einer fremden und sich ag­gressiv anhörenden Sprache gestritten haben, wie aus einer anderen Zeitzone auf ihn fielen.

      »Gibt es ein Problem? Belästigt Sie dieser Mann, Señora

      Sein Spanisch war gut — für einen Hut.

      Ramón musste lachen. Diese Schlampe! Die würden sie nie dran­kriegen. Wenn Europol kommen würde, um die Tür zu ihrem Ho­telzimmer einzutreten, würde der erste im Raum sie noch fragen, wo ihr Mann sei. Oder ihr Freund. Oder ihr Kunde. Was auch im­mer sie wollte. Der Gedanke ließ sein Blut kochen. Doch dies war weder der Ort noch die Zeit, um herauszufinden, ob Hüte wirklich die andere Backe hinhielten, wenn man ihnen eine reinschlug. Die Straße war voller Menschen, die meisten Hüte. Einige hatten die Si­tuation bereits bemerkt und würden ihrem Artgenossen wahr­scheinlich sofort zur Hilfe eilen. Mit der Zunge schob sich Ramón die Pistazienschalen zwischen die Lippen und blies sie dem Hut ins Gesicht, dann packte er das Leibchen, das er trug, wischte sich den Mund daran ab und drehte sich um.

      »Verpiss dich lieber aus Madrid«, fauchte er auf spanisch.

      Wenige Minuten später liefen Passanten wieder an ihnen vorbei, ohne sich um sie zu scheren.

      Irgendwann tauchte der Königspalast vor ihnen auf. Voller In­brunst würgte Ramón Speichel hoch und spuckte ihn in Richtung Palast auf die Straße. Da ne Bombe rein, dachte er. Sieben Jahre war das jetzt her. Sieben Jahre seit dem 11. März 2004, 11-M, als eine linksradikale Zelle der ETA sich mit einem Al-Qaida-Ausläufer na­mens Islamische Kampfgruppe Marokko verbündet hatte, um zehn Sprengsätze in spanischen Zügen zu zünden. Einer der größten Ter­rorakte auf europäischen Boden. 191 Tote. Es hätten mehr sein kön­nen, sie hätten den ganzen Bahnhof Atocha zum Himmel geblasen, wenn sie nur alles richtiggemacht hätten. Doch das war schon im­mer das Problem der familia gewesen; auf den letzten Metern lief ir­gendwas schief. Wer was erreichen wollte, sollte nicht zu geizig sein, vernünftige Zünder zu kaufen, oder so dumm, einen LKW mit einer halben Tonne Sprengstoff nach Madrid fahren und sich von der Polizei auf der Autobahn wegen defekter Bremsleuchten festna­geln zu lassen. Daran war es 2004 gescheitert. Zum Glück war er nur beim Beladen dabei gewesen. Diesmal würde es anders sein. In jeder Hinsicht.

      »Dieses Land hat nichts anderes verdient«, sagte er. »Es ist schon lange im Kommen. Die Studenten auf der Straße wissen es. Die Rentner an den Tafeln wissen es. Sie alle schreien danach. Schreien nach ihrem Geld. Jeder will, was ihm zusteht. Und wer Macht hat, verpisst sich hinter meterhohe Mauern und hält das Maul. Die ha­ben es doch selbst heraufbeschworen. Dieses Mal werden wir es ih­nen richtig zeigen.«

      Ramón sah zu der Frau hinüber, als keine Antwort kam. Die stand nur da, die Sonne im Rücken, und sah auf die andere Straßen­seite. Am Zaun, der den Königspalast umkreiste, lehnten zwei Halbstarke. Während sie sich unterhielten, durchsiebten ihre Blicke die vorbeiströmenden Pilger. Gelegentlich folgten sie ihnen einige Meter die Straße hinunter und pöbelten ihnen hinterher.

      »Glaubst du daran?« fragte Mathilda mit noch immer abwesen­dem Blick. »An die Sache mit dem Geld?« Ihre Stimme klang dabei so aufmerksam, dass Ramón das unheimliche Gefühl bekam, plötz­lich mit einer anderen Person zu sprechen. Oder mit zweien.

      Der Dickere der beiden stellte einem kleinen Mädchen das Bein; das Kind taumelte, wurde aufgefangen, machte sich aus dem Staub. Die Halbstarken lachten. Erste wechselten die Straßenseite.

      »Welches Geld?«

      »Die fünfzig Millionen. Die Steuergelder, mit denen die Regie­rung den Weltjugendtag angeblich gesponsert hat.«

      »Macht das einen Unterschied?«

      Keine Antwort. Sie stand nur weiter da und starrte.

      »Ist der Plan noch immer, dass wir später zusammen nach Chamartín fahren?«, fragte Ramón.

      In einem Industriegebiet im Vorort Chamartín lag eine Garage, in der bereits an der Verkabelung der Sprengsätze gearbeitet wur­de. Sie würden von einer wahllosen Metrostation in der Innenstadt dorthin aufbrechen, damit sie im Ernstfall niemand zu ihren Auf­enthaltsorten