Briefe an die Geliebte. Gunter Preuß

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Название Briefe an die Geliebte
Автор произведения Gunter Preuß
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738009309



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zu lassen.

      In all den Jahren, in denen ich zu den Liebschels ging, erzählte Kurt mir dreimal aus seiner Vorgeschichte. Gewöhnlich sprach er nicht viel von sich, und Klagen kannten wir von ihm schon gar nicht. Er sprach von sich an Sonntagvormittagen, die aus der Art fielen. Wir stritten hartnäckig, es war, als trieben uns bissige Winde gegeneinander. Anfangs hatten wir versucht, uns wie üblich aneinander festzuhalten. Als der Druck stärker wurde, wandten wir uns Nanga Parbat zu, um uns unter seinen Schutz zu stellen. Aber an solchen Vormittagen reagierte er nicht wie gewohnt, er drehte die sich aufbauenden Stürme nicht ab, und so fielen wir übereinander her, um uns weh zu tun. Plötzlich waren wir verunsichert, das mörderische Geschehen in Beirut war nahe, das Massensterben in Äthiopien, wir rochen Giftgas und hörten die Detonation einer Bombe in einem Pariser Kino. Wir waren da mitten hinein geraten, sahen keinen Ausweg und wurden aggressiv, wo es der Besonnenheit bedurft hätte. "Das Wetter", sagten wir später, als wir uns unseres Verhaltens schämten. "Immer wenn der Wind aus Südost bläst, dann fährt's einem durch Mark und Bein."

      "Ich habe da etwas", sagte Kurt Liebschel zu mir, und er atmete hastig und schwer. Mir war, als lasteten seine Zentner, die sonst sicher von der Erde getragen wurden, auf ihm. Er musste etwas abwerfen, wenn er nicht erdrückt werden wollte. Er sprach nicht länger als eine halbe Stunde; danach schlief er ein, und noch im Schlaf stand ihm der Schweiß auf der Stirn. Wenn er nach ein paar Minuten erwachte, rief er: "Katastrophe, lass doch mal die Luft aus den Gläsern. Dein Vaterland dankt es dir, mein Engel."

      Kurt Liebschels Vorgeschichte hatte nichts Sensationelles, sie ist in manchem Detail eher charakteristisch für viele Menschen, die nach dem Krieg vieles besser machen wollten. Wir kennen solche Lebensläufe, es sind die unserer Väter und Mütter, und doch hat jeder von ihnen etwas ganz Eigenes und Unverwechselbares. Kurt Liebschels Vater war in D. Knecht bei einem Großbauern gewesen. Seine Mutter arbeitete im Sommer auf den Feldern des Bauern, und in den Wintern gebar sie drei Jungen und fünf Mädchen, kümmerte sich um die Wohnung, das Viehzeug und half, wenn sie gerufen wurde, im Haushalt des Brotgebers. Beide wurden sie Mitglieder der NSDAP, sogenannte Mitläufer, deren Aktivität aus deren Inaktivität bestand; sie erhofften sich Vorteile von dem Parteieintritt, mit dem Knechtsleben sollte es endlich ein Ende haben. Das Einsehen in seine Irrtümer kam für Paul Liebschel bei Stalingrad zu spät. Kurt wuchs bei seiner Mutter auf, die ohne Mann blieb und mit Strenge und Unnachsichtigkeit gegen sich selbst und die ihr verbliebenen vier Kinder lebte. Von den Nazis entsetzt, schaffte sie es nicht, den Sozialdemokraten und Kommunisten zu vertrauen. Sie arbeitete wie ein Mann in einem Betonwerk, alterte schnell und schien doch das ewige Leben zu haben. Kurts Kindheit wäre freudlos gewesen, wenn er nicht genügend Abwechslung außerhalb der vier Wände gefunden hätte. Er war ein schmaler, dunkellockiger Junge, dem der Witz aus den Augen sprühte, springlebendig und stets zu Neckereien aufgelegt. Im Jugendverband half er, Aufbaueinsätze, Tanzabende und Fußballkämpfe zu organisieren, er lernte Möbeltischler, war Obermann bei der Kunstradfahrertruppe Die Sensationellos, die mit ihrem Programm in den Auendörfern und den Großbetrieben des Bezirks auftrat. Er ging zur Kasernierten Volkspolizei, wurde auf die Parteischule geschickt, war Mitbegründer der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft in D. und gehörte zu den jüngsten LPG-Vorsitzenden des Landes. Kurt Liebschel verliebte sich in Nannerl, Vater Ungar, Mutter Österreicherin, geboren in Wien, Verkäuferin in einem Kiosk, von der er sagte: "Sie war ein Glöckchen. Wenn es nicht läutete, rostete es." Sie heirateten sieben Tage nach ihrer ersten Begegnung, und es ging gut zwischen ihnen. Die LPG von D. wuchs unter Kurt Liebschels Leitung zu einem mustergültigen Betrieb heran, wurde mit Auszeichnungen geehrt, von Funktionären und Bauern aus anderen Bezirken aufgesucht. Kurt hatte es verstanden, den ehemaligen Bauern und Knechten von D., ihren Frauen und ihren Kindern, von denen manche dem Zusammenschluss des Besitzes misstrauisch und ablehnend gegenübergestanden hatten, einzuprägen, dass jeder ihrer Gedanken und jede ihrer Bewegungen für die gemeinsame Sache sich für jeden Einzelnen auszahle. Sie sollten das so sehen: Es gäbe jetzt keinen Großbauern mehr, dem allein das ganze Dorf, die Felder, Weiden, der Wald und die Tiere gehörten - sie alle wären jetzt Großbauern und bewirtschafteten ihren eigenen Besitz. Das Wichtigste für das Wachsen sei die Liebe. Mancher von ihnen wüsste es von früher aus den Predigten des Pfarrers: Erst müsse der Samen in die Furche des Ackers gebracht werden, damit eine gute Frucht aufgehen könne. Und er lachte und rief von seiner Kanzel, einem alten Trecker: "Also, Leute, seid fruchtbar und mehret, was euer ist!" So gediehen Kinder, Korn und Vieh in D. prächtig. Schon damals war Kurt Liebschel mit den sowjetischen Soldaten aus der Kaserne Roter Stern im Geschäft. Wenn es in der Genossenschaft mal an Benzin für die Traktoren mangelte, die Sowjets hatten genug davon und gaben es an Kurt Liebschel ab für ein paar Mastschweine. "Freundschaft ist eine um so bessere Sache, wenn für jeden etwas dabei herausspringt", sagte Kurt.

      Dann kam eine Zeit, in der Entscheidungen getroffen wurden, die für Kurt Liebschel, wie er sagte, "einen Niederschlag gebracht hatten, aus dem leicht ein K. O. hätte werden können". Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden umgestaltet, Pflanzen- und Tierproduktion wurden getrennt. Kurts LPG bekam die Tierproduktion. Auf seinen Feldern wurden jetzt Erdbeeren und Obst angebaut. Das Futter musste von der kilometerweit entfernten LPG Pflanzenproduktion herangeholt werden. "Weißt du", sagte Kurt Liebschel, als müsste er sich von einem, ihn immer wieder einmal heimsuchenden Schmerz befreien, "sie rissen mir dieses Ganze, das wir in den Jahren geschaffen hatten, auseinander. Gut, ich war noch jung genug, um Veränderungen durchzustehen. Aber bei mir läuft nichts ohne innere Überzeugung. Ich muss für eine Sache beide Hände ins Feuer legen können. Von meinem Vater hatte ich gelernt: Das Vieh muss beim Futter stehen. So hatten wir es auch in der Genossenschaft gehalten und waren damit gut gefahren. Ich ging zum Vorsitzenden des Kreises, zum Bezirk, fuhr nach Berlin, ich warnte vor den Transportkosten für das Futter, vor Bauern, die nicht mehr in Zusammenhängen denken können, weil doch in der Landwirtschaft ein Kreislauf besteht, den man nicht unterbrechen darf. Sonst fängt es irgendwo an zu kränkeln, auf dem Feld oder in den Ställen. Und ist erst einmal der Wurm drin, dann wird er zur Plage. Am Anfang waren die Genossen freundlich zu mir. Ich war ja ihr Mann. Sie erklärten, sprachen beruhigend auf mich ein. Meine Rechnungen, die ich aufgemacht hatte, legten sie in die Schublade und sagten mir, sie würden das prüfen lassen. Ich kam mit meiner Tierproduktion nicht mehr zurecht. Mir fehlten die Felder und Wiesen. Weißt du, es war mir, als sei mir der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Ich schickte Beschwerdebriefe los, machte Eingaben, fing an zu nörgeln. Meine Leute waren unzufrieden. Wir waren nicht mehr die Vorzeigegenossenschaft. Unser Verdienst ging rapide zurück. Die Genossen vom Bezirk bestellten mich zu einem Gespräch. Sie wollten wissen, was denn los sei mit mir, verlangten Einsehen und Parteidisziplin. Ich sollte nicht denken, dass ich klüger sei als die Partei. Ich versprach Besserung. Aber kaum zu Hause, verpuffte meine Energie in meiner Wut. Es war, als wollte ich mit Macht beweisen, dass es so, wie sie es sich vorstellten, nicht gut ging. Ich ließ alles dahingehen. Meine fähigsten Leute liefen mir weg. Die anderen wurden gleichgültig. Sie arbeiteten lieber auf ihrem eigenen Stück Feld und in ihrem Stall. Wir bekamen eine Seuche in die Schweineställe. Die Verluste brachten uns an den Rand des Ruins. Nachdem der Bezirk mir eine schwere Rüge ausgesprochen hatte, war ich Schnaps und Bier ein guter Freund geworden. Zu Hause fand ich auch keinen Halt mehr. Nannerl war kränklich geworden. Das Glöckchen - es hatte aufgehört zu läuten. Sie sprach nicht mehr von ihrem Wien. Wir liebten uns noch; aber es fehlte uns die Kraft für den anderen. Nach dem Schweinesterben wurde ich als Vorsitzender abgelöst. Ich sollte im Rinderstall arbeiten, erst einmal für ein Jahr, um wieder zu mir zu finden. Ich tat diese Arbeit, das Nötigste, sprach mit keinem Kollegen. Ja, ich fühlte mich von den eigenen Genossen verstoßen. Unsere Idee von einer großen Menschengemeinschaft schien mir von ihnen aufgegeben zu sein. Nannerl kam ins Krankenhaus. Bald darauf wurde sie in eine Heilanstalt überwiesen. Es hieß, Seele und Geist seien schwer erkrankt; aber die Ärzte würden sie heilen. Nach ein paar Wochen war sie tot. Nachts ist sie in ein Ärztezimmer eingebrochen und hat an Tabletten geschluckt, was sie in sich hineinbekommen konnte. - Ja, weißt du, ich bin nicht mehr arbeiten gegangen. Ich habe mich fast totgesoffen. Ich hätte es wohl auch getan, wenn nicht die Lust am Essen über mich gekommen wäre. Irgendetwas in mir rebellierte gegen das Abkratzen. Ich aß nicht, ich fraß. Ich stopfte alles Essbare in mich hinein, und mein Hunger wurde nur größer. Ich hatte eine unersättliche Gier auf fettiges Fleisch, dick mit