Frühlings Erwachen. Markus Orths

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Название Frühlings Erwachen
Автор произведения Markus Orths
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753130842



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Wendla

      Die Gedanken kommen nachts. Wenn ich nicht schlafen kann. Dann sehe ich plötzlich einen Atemzug vor mir und weiß, das ist der letzte. Mir zerfallen die Zähne im Mund. Es ist alles leer. (schreibt den Aguilera-Satz ins Vokabelheft) Trying hard to fill the emptiness. Aber ich weiß dann: Ich muss jeden Zug, der mir noch bleibt, auf der Zunge zergehen lassen. Das ist alles, was zählt. Ich weiß auch schon wie, Mutter. Da ist noch etwas in mir, das sich...

       Frau Bergmann

      Das ist nur das Alter.

       Wendla

      Was?

       Frau Bergmann

      Das geht vorbei, Wendla, das geht vorbei.

       Wendla (nachdenklich)

      Was geht sonst noch vorbei, Mutter?

       Frau Bergmann

      In Zukunft will ich keine nackte Haut mehr sehen, wenn du in die Schule gehst. Ist das klar?

       Wendla

      Was geht sonst noch vorbei, Mutter?

       Frau Bergmann

      Genug geredet. Lern jetzt weiter, Wendla, lern weiter! Ab

       Wendla (allein)

      Was geht sonst noch vorbei?

       Zweite Szene

       Die Jungen (Ernst, Hänschen, Georg, Melchior, Moritz) beim Basketballspielen. Letzter Korb.

       Hänschen

      Was soll das?

       Melchior

      Das ist mir zu langweilig. Ich mach nicht mehr mit.

       Hänschen

      Okay, Moritz und Georg.

       Georg

      Hast Du schon Latein gelernt?

       Melchior

      Spielt ruhig weiter.

       Moritz

      Wohin gehst du?

       Melchior

      Spazieren.

       Ernst

      Es wird ja dunkel.

       Melchior

      Warum soll ich nicht im Dunkeln spazieren gehen?

       Georg

      Gerundium! - Plusquamperfekt! - Übersetzung! - ACI!

       Moritz

      An nichts kann man denken, ohne dass einem die Schule dazwischen­kommt!

       Hänschen

      Ich geh nach Hause.

       Ernst

      Ich auch.

       Georg

      Gute Nacht.

       Melchior

      Gute Nacht.

       Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.

       Melchior

      Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!

       Moritz

      Und wozu wir in die Schule gehen! – Ich kann’s dir sagen: (zeigt auf seinen Kopf) Damit sie uns vollstopfen können! – Und warum stopfen sie uns voll? – Damit sie uns prüfen können! – Und warum prüfen sie uns? – Damit wir durchfallen.

       Melchior

      Kennst du die Gauß’sche Normalverteilung?

       Moritz

      Was?

       Melchior

      Die Gauß’sche Normalverteilung. Die Notenkurve sieht immer aus wie ein ... wie ein Grabhügel. Wenig gute Noten, wenig schlechte, viel Durchschnitt. Das heißt, ein paar von uns werden immer durchfallen.

       Moritz

      Wenn mein Vater nicht wär, ich wär schon längst über alle Berge. – – – Mir ist so komisch zu Mute. Siehst du die schwarze Katze?

       Melchior

      Glaubst du an so was?

       Moritz

      Ich weiß nicht. – Es hat nichts zu sagen.

       Melchior

      „Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen.“

       Moritz

      Wer sagt das?

       Melchior

      Wedekind, Frühlings Erwachen.

       Moritz

      In Deutsch bin ich genauso schlecht wie in Latein.

       Melchior (dozierend)

      mens sana in corpore sano.

       Moritz

      Was machst du?

       Melchior

      Ich ziehe mein T-Shirt aus. Es ist klatschnass. Wenn der Schweiß trocknet, wird er kalt. Na los! Oder traust du dich nicht?

       Moritz (zieht sein T-Shirt aus)

      Glaubst du an so etwas wie Schamgefühl?

       Melchior

      Schamgefühl? Das war nur ein T-Shirt, mein Freund. Stell dir vor, du musst dich GANZ ausziehen. Hier. Jetzt. Sofort. Würdest du es tun?

       Moritz

      Nein.

       Melchior

      Angsthase.

       Moritz

      Als ob DU dich trauen würdest!

       Melchior

      Sag so was nicht, Moritz. Ich würde es tun, aber nur, wenn du es auch tust!

       Moritz

      Angeber!

       Melchior

      Eigentlich ist es einfach. (Zieht sich Schuhe und Strümpfe aus.)

       Moritz (wird unruhiger)

      Komm, hör doch auf damit!

       Melchior

      Was denn? Das sind doch nur Schuhe, und das hier Strümpfe. Es ist nichts dabei. Auch Füße brauchen Luft und Bewegungsfreiheit. Sie wollen atmen, siehst du die Zehen, wie sie sich