Название | Die Kinder vom Hühnerberg |
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Автор произведения | Eberhard Schiel |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783847648239 |
Jochen muss sich disziplinieren. Das Heimweh steigt in ihm auf, die Sehnsucht nach dem nächsten Heimaturlaub wächst. Nicht daran denken, lautet seine Devise. Er berichtet vom belanglosen Dingen an der Front, legt ein Foto anbei, auf dem er einsam und allein im russischen Wald auf einem Holzstapel zu sehen ist. Jochen hält eine Flasche Sekt im Arm. Er blickt in Gedanken versunken zum Fotografen. Sein Lächeln wirkt gequält. Irgend etwas ist in ihm zerstört worden. Es offenbart sich ihm scheinbar die völlige Sinnlosigkeit des Krieges. Und mit diesem Wissen ist schlecht kämpfen. Ahnt er, dass ihn schon bald der Tod ereilen wird? Solche Vorahnung bei Soldaten soll keine Seltenheit sein. Entsprechend seines Gemütszustandes lässt er in seinem nächsten Brief der eingekapselten Seele einen gewissen Freiraum, etwa da, wo geschrieben steht: “Nun ist der erste aus meiner ehemaligen Klasse gefallen....Dieser arme Kerl musste schon so früh sein junges Leben hingeben. Im April fiel er. Wer wird wohl der Nächste sein?” Man spürt förmlich, wie die Seele für einen kurzen Moment nicht mehr im Gleichschritt marschiert. Sie gerät aus dem Takt. Doch einige Zeilen dahinter beklagt Jochen schon wieder die begonnene Invasion der Engländer und Amerikaner. Er hat sich wieder im Griff, wenn er großspurig tönt: “Die Spannung ist vorbei. Wir wissen nun, wo der Feind steckt und wo wir ihn packen können. Jetzt heißt es, den Engländer auf dem Kontinent zu vernichten und damit die Entscheidung des Krieges zu erzwingen.”
Mit dieser Drohung endet sein letzter Brief von der Ostfront. Datiert vom 11. Juni 1944. Was danach an Feldpost nach Hause geschrieben wird, trägt die Unterschrift des Kompaniechefs und des medizinischen Personals. Lassen wir zunächst den Oberstabsarzt Dr. Hering zu Wort kommen:
“O.U., den 12. Juli 1944 - Lieber Herr Schlei!
Es ist mir eine traurige Pflicht Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr lieber Sohn, der Gen. Hans-Joachim Schlei, am 27.6.1944 an den Folgen einer schweren Verwundung verstorben ist. Zu diesem schweren Verlust spreche ich Ihnen mein tiefempfundenes Beileid aus.
Nach dem Ihr Sohn schwer verwundet worden ist, sollte er, durch die Lage an der Front bedingt, mit einem Lazarettzeit in ein rückwärtiges Lazarett verlegt werden. Leider hat er durch die Schwere der Verwundung diesen Transport nicht überstanden. Ich kann Ihnen aber versichern, dass von Seiten der Ärzte alles getan worden ist, um dem tapferen Soldaten die Schmerzen seiner Verwundung zu erleichtern und ihm seinen Zustand erträglich zu gestalten. Irgendwelche Wünsche hat Ihr Sohn nicht mehr geäußert. ..
Der Nachlass Ihres Sohnes wird Ihnen gesondert zugeschickt werden.
Ihr Sohn wurde auf dem Heldenfriedhof in Baranowitsche im Beisein des Kriegspfarrers unter soldatischen Ehren beigesetzt.
Mit stillem Gruß!
Dr. Hering”
Na, gut. Nun kam es auf eine Lüge mehr oder weniger auch nicht mehr drauf an. In einem Punkt hielt der Arzt allerdings Wort. Er schickte unverzüglich den Nachlass des “gefallenen Helden” an meine Eltern. Im Anschreiben wird akribisch aufgelistet, was der Jochen in Besitz hatte: Bargeld in Höhe von 23 M, 1 Geldbörse mit Münzen, 1 Brustbeutel, 1 Notizbuch, 1 Spiegel, 1 leere Geldbörse, 1 Kamm. - Das ist alles preußisch korrekt. Aber was ist mit dem Todesdatum? Maschinenschriftlich lese ich, dass er am 29 Juni gestorben ist, jemand hat das Datum dann mit der Hand auf den 27. korrigiert, während Unteroffizier Altendorf Jochens Sachen am 28. aus dem Lazarettzug geholt hat.
Trotz dieser Ungereimtheiten lässt Vater diese Todesanzeige in die Zeitung setzen: “ Im festen Glauben an Deutschlands Endsieg starb an einer sehr schweren Verwundung am 27.6.44 i.e. Lazarettzug im Osten unser lieb. ältester Junge und Bruder, der Grenadier und Kompaniemelder Hans-Joachim Schiel im 19. Lebensjahr. Stralsund im Juli 1944.”
Unter den Namen der trauernden Hinterbliebenen auch Renate, die seit zwei Jahren nicht mehr lebt. Dafür fehle ich. Warum? Auch mit zwei Jahren kann man schon trauern. Das hat uns doch der Krieg gelehrt.
Wie gesagt, die Zweifel bleiben bestehen. Vater bittet um die Schilderung der näheren Umstände des Ablebens seines Sohnes. Ein gewisser Leutnant Müller antwortet am 8. August 1944 so: “Da die Einheit 10 879 b wegen Auflösung der Division nicht mehr besteht, wurde Ihre Anfrage vom 22.7. zum Abwicklungskdo. 727 b Gren. Ers. Btl. 488 Lindau i.B. gesandt. Ich hoffe, dass von dort wenigstens ein Teil Ihrer Fragen zufriedenstellend beantwortet werden kann. Gleichzeitig spreche ich Ihnen...”
Die üblichen Floskeln am Schluss solcher Briefe schenken wir uns. Bei seiner Danksagung an Leutnant Müller für dessen Beweise innerer Anteilnahme spricht Vater weiterhin vom Heldentod des Kriegsfreiwilligen Hans-Joachim Schiel. War das notwendig? Wurden andere Anzeigen gar nicht erst angenommen? Ich weiß es beim besten Willen nicht. Eine andere Frage drängt sich mir auf. Hatte Jochen eine Freundin, die damals um ihn weinte? Wie vieles andere, ist man auch hier auf Vermutungen angewiesen. Eine Beileidskarte vom 7. August 1944 deutet eventuell darauf hin. Da schreibt eine Frau aus Bergen. “Zu dem überaus schweren Verlust, der Sie mit dem Heldentode Ihres lieben, tapferen Sohnes Hans-Joachim betroffen hat, spreche ich Ihnen meine herzlichste Teilnahme aus.
Mit stillen Grüßen Ihre mitfühlende Christa Baum.”
Um die Geschichte meines Bruders Jochen zu Ende zu bringen: Noch im Februar 1945 findet Vater im Briefkasten einen Feldpostbrief. Der Inhalt ist verschwunden. Ich halte den Briefumschlag in den Händen. Ein roter Stempel von der Dienststelle mit der Feldpostnummer 47852 ist der einzige Hinweis auf eine weitere Anfrage meines Vaters. Die Nachricht vom Tod seines Sohnes hatte er - nebenbei erwähnt - selbst austragen müssen. Er hatte sich ja freiwillig im Rahmen der Parteiarbeit dazu bereit erklärt, Todesmeldungen von der Front an die Angehörigen der gefallenen Soldaten persönlich auszuhändigen.
Meine Mutter glaubte indes weiter an den großen Irrtum. Als die ersten Gefangenen aus Russland wieder in der Heimat eintrafen, lief sie zum Bahnhof. Inge, die bei der Güterabfertigung arbeitete, wollte sie davon abhalten, um ihr eine Enttäuschung zu ersparen. Mutter soll daraufhin unwirsch reagiert haben, in dem sie gesagt hätte: “Bei dem Sohn von Viehhändler Jantzen hieß es immer, er wäre in Stalingrad gefallen. Nun ist er als einer der ersten Heimkehrer wieder in Stralsund angekommen. Bei Jochen kann es ja auch so sein.”
Mutter war in dieser Beziehung starrköpfig. Sie lief zum nächsten Zug, zum übernächsten, zum über übernächsten. Der Jochen lief ihr nie in die Arme. Bis zum Schluss ihrer Tage, im September 1977, glaubte sie wenigstens noch an den Heldenfriedhof in Baranowitsche. Ich hatte ihr das Versprechen gegeben, dass wir irgendwann gemeinsam dort hinfahren würden. Wir wollten verspäteten Abschied von Jochen nehmen. Es ging nicht. Baranowitsche befand sich in Russland. Einzelreisen nur in Sonderfällen möglich. Und das bei aller Freundschaft zweier Diktaturen. Wie gesagt, nur in Ausnahmefällen war die Einreise erlaubt, aber dann bitte genaue Adresse angeben, Überprüfung vor Ort. Jochens Adresse hieß: Heldenfriedhof Baranowitsche. Es wird ihn nie gegeben haben, diesen Heldenfriedhof für deutsche Soldaten des II. Weltkrieges. Eine Anfrage an die Deutsche Kriegsgräber-Fürsorge bestärkt mich in dieser Vermutung. Muttis größter Wunsch blieb also unerfüllt. Sie hat