In der alten Hansestadt Stralsund ist in den fünfziger Jahren auch die Zeit der «Halbstarken» angekommen, wenn auch in abgeschwächter Form und vom Staat argwöhnisch beobachtet, aber dennoch kaum übersehbar. Wir, die wir damals als Jugendliche Ernst genommen werden wollten, hatten andere Vorbilder als unsere Eltern, andere Vorstellungen vom Leben, von der Liebe und der Freiheit. Wir kippten alte, verstaubte Vorstellungen von Moral und Ethik einfach über Bord, damit die Erwachsenen provozierend. Wir gingen in Gruppen durch die Straßen, trafen uns auf dem Rummelplatz oder in der Milchbar, tanzten die neuen wilden Tänze, den Rock `Roll und den Twist, rauchten nicht mehr heimlich im Dunkeln, sondern an der nächsten Straßenecke, knutschten auf dem Bürgersteig ein Mädchen, trugen Röhrenjeans und schwarze Lederoljacken, Igelschnitt oder Schmalzlocke, hörten den aufpeitschenden Gesang von Bil Haley aus dem Kofferradio, gingen gesittet zur Schule und verwandelten uns in der Freizeit in Kopien der westlichen Idole. Wir waren eben noch jung, unerfahren, doch voller Hoffnung, dass es irgendwann mal wieder anders kommt. Wir, die Halbstarken vom Strelasund.
In den ersten Augusttagen des Jahres 1914 empfindet die Mehrheit der europäischen Bevölkerung nach den politischen Krisen der Vorjahre den Beginn des Weltkrieges als ein reinigendes Gewitter, dass unbedingt notwendig sei. So sieht man dann auch überall diese Bilder: Jubelnde Menschen, flotte Militärkapellen, uniformierte Jugendliche mit einer Blume im Lauf ihres Gewehres, Hochrufe auf den Kaiser oder Zaren. Im kühlen Norden, in Stralsund, der Heimatstadt meines Vaters, ist es nicht anders. Er, der einem christlichen Jugendverein angehört, glaubt plötzlich an Gott und Hindenburg. Die Stunden in seinem Verein werden zum absurden Theater. Dort singen sie Lieder über den Frieden, und gleich danach erklärt der Pastor ihnen die militärische Lage. Einige Freunde von Otto Schiel sind schon als Kriegsfreiwillige im Feld, und er fiebert dem Tag entgegen, da er selbst mit der Waffe in der Hand die zweifelhaften und oft missbrauchten Begriffe von Ehre, Pflicht und Vaterlandsliebe verteidigen kann. Am 3. Juni 1916 ist es endlich soweit. Otto Schiel kommt an die Westfront, zusammen mit mit seinem Vater Ernst Schiel, während meine Großmutter mit ihren vier verbliebenen Kindern an der Heimatfront einen bitteren Überlebenskampf führen muss. Da der Briefverkehr gleich am ersten Kriegstag einsetzt und erst im November 1918 endet, bietet die vorliegende Sammlung der Briefe dem Leser einen tiefen Einblick in die Gedankenwelt christlicher erzogener Jünglinge während jener «eisernen Zeit», zumal ein Freund des Vaters gleich im September 1914 von der Ostfront berichtet, der andere zum gleichen Zeitpunkt von der Westfront, und dazwischen ab Juni 1916 meine Großmutter Emma Schiel. In diesem Kontext sind diese Briefe für das Studium des Ersten Weltkrieges so wertvoll geworden.
Das Buch beginnt mit der Schilderung eines scheinbar ganz normalen Tages im Jahr 1938 in Paris. Menschen eilen hastig am Montagmorgen des 7. November in die Metro. Man unterhält sich über die Ereignisse des Wochenendes. An der Station «Madelaine» steigt gegen 9 Uhr ein junger Mann im hellen Trenchcoat zu. Niemand ahnt, dass er es sein wird, der wenige Augenblicke später die Welt in Atem halten wird. Die Zeitungen in aller Welt berichten über ihn, den aus Hannover nach Paris gekommenen Juden Herszel Grynszpan. Er verschafft sich auf ominöse Weise Zutritt zur Deutschen Botschaft Paris und erschießt den Legationsrat Ernst vom Rath. Ob er aus eigenem Antrieb handelte oder im Auftrag höherer Instanzen ist Gegenstand der Recherchen des Autors.
Anliegen dieses Buches ist es, einer heute verstärkt zu beobachtenden Verklärung der damaligen Ereignisse in der DDR den Zahn zu ziehen, der Nostalgie nicht zu viel Raum zu geben und die wahren Verhältnisse aus dem Blickwinkel eines heranwachsenden Kindes zu sehen, wobei die erzählten Geschichten auf zwei Sprachebenen dargeboten werden, eben der des Kindes, und der des Autors. Im Mittelpunkt der Konfrontation mit den damaligen Ereignissen steht die Auseinandersetzung zwischen mir und meinem Bruder, dem naiven Kind und dem schon staatsbewußten Bruder und FDJ-ler, wobei der Humor nicht auf der Strecke bleibt.