Название | Die Beschwörungsformel |
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Автор произведения | Hildegard Grünthaler |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783742780669 |
6. DIE BEFREIUNG
Zorro hatte dösend auf seiner Decke gelegen. Nun hob er den Kopf, stellte die Ohren auf und knurrte. »Sei still«, befahl Philipp, »ich hab eine grässliche Hausaufgabe auf und muss meine grauen Zellen anstrengen!« »Dear Mark,« hatte er bis jetzt in sein Heft geschrieben. »I spent my Easter holydays in …« Suchend blätterte Philipp im Wörterbuch. »Aha, ›Marokko‹ heißt auf Englisch ›Morocco‹. Für diese verflixte Hausaufgabe muss ich ganz bestimmt noch tausend Wörter nachschlagen«, schimpfte er. - Zorros Knurren steigerte sich zu einem dunklen Donnergrollen.
»Ich hätte dich mit in die Schule nehmen sollen, damit du unseren Mr. Bean anknurrst. So eine Schnapsidee von dem: ›Stellt euch vor, ihr hättet einen Brieffreund in London. Schreibt ihm, wie ihr eure Osterferien verbracht habt!‹ Also ganz ehrlich, wenn ich bei dir zu Hause geblieben wäre, hätte ich mich leichter getan: ›Ich ging jeden Morgen mit meinem Hund Gassi und spielte nachmittags mit meinen Freunden Fußball.‹ Punkt und fertig! Das hätte ich ganz schnell übersetzt. Gut, was ›Gassi gehen‹ auf Englisch heißt, weiß ich auch nicht. Aber zwei Wochen mit dem Bus durch Marokko – Fes, Rabat, Marrakesch – immer mit einem abgehalfterten Pauker im Nacken und einer Großmutter, die auf jedem Markt einkauft wie eine Wilde – Lederbeutel, Silberarmbänder, alte, blaue Glasflaschen – das wird ein endlos langer Brief! Aber warum erzähl ich dir das alles? Du bist ja nur ein dummer Hund und versteht nichts von dem, was ich dir sage!« Zorro war von seiner Decke aufgesprungen. Sein schwarzes Fell sträubte sich, und mit hochgezogenen Lefzen fletschte er drohend die Zähne.
»He, war nicht so gemeint«, witzelte Philipp, »du bist selbstverständlich der klügste und schlauste Hund, den ich kenne. Aber bei dem blöden Brief kannst du mir leider nicht helfen!« Philipp stemmte den Ellbogen auf den Schreibtisch und stützte den Kopf ab. »Also, ich schreibe am besten, dass wir bis nach Agadir geflogen und dann mit dem Bus gefahren sind, dass wir viele Moscheen besichtigt haben ... Was heißt wohl Moschee auf Englisch?« Philipp griff wieder nach dem Wörterbuch und blätterte. »K, l, m ...«, murmelte er vor sich hin, »mo... – Morphium, morsch, Mörser, Mörtel ...«, suchend fuhr er mit dem Finger über die Zeilen. »Verflixt nochmal Zorro, warum bellst du das Regal an? Sei endlich still!« Zorro hörte auf zu bellen und verlegte sich wieder auf sein dumpfes Grollen. »‹Mosque‹ – ich hab’s gefunden. Moschee heißt ›mosque‹! Philipp notierte es auf einem Schmierblock. Zorro sprang mit wütendem Gebell vor dem Regal in die Höhe. »Zorro, du führst dich auf, als wenn sich des Nachbarn fetter Kater in meinem Regal versteckt hätte! Oder ist es am Ende die Flasche, die dich so aufregt?« Philipp hatte den Stift beiseitegelegt und war von seinem Schreibtisch aufgestanden. Einen kurzen Moment lang war es ihm so vorgekommen, als hätte die blaue Glasflasche, die seine Großmutter nicht mehr hatte haben wollen, violett geschimmert. »So ein Quatsch«, sagte er und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Aber das könnte ich übrigens auch schreiben: ›Meine Großmutter kaufte eine alte, blaue Flasche. Leider konnten wir den Pfropfen nicht öffnen.‹« In diesem Moment kam Philipp eine zündende Idee: »Mensch, wir haben doch ›ne Bohrmaschine! Die kleine, handliche Akkumaschine, die mein Vater neulich gekauft hat. Damit könnte ich es mal probieren!« Im nächsten Moment war er aufgesprungen und hatte die verflixte Hausaufgabe vergessen. Er schnappte sich Oma Webers Souvenir aus Marrakesch, das er auf eines der oberen Borde in seinem Regal gestellt hatte, und stieg die Kellertreppe hinunter. Zorro rannte mit wütendem Gebell hinter ihm her.
»Komisch«, dachte sich Philipp, »bisher ist mir noch gar nicht aufgefallen, dass die Flasche in verschiedenen Farben schimmert. Jetzt sieht sie beinahe rot aus. Wird wohl an der neuen Leuchtstoffröhre liegen, die mein Vater neulich in seiner Kellerwerkstatt installiert hat.« Philipp suchte sich aus Vaters Bohrern einen passenden aus und spannte ihn ins Bohrfutter der Bohrmaschine, während Zorro unablässig knurrte und bellte.
»Mist«, schimpfte er, »Ich kann die Maschine nicht mit einer Hand halten. Was mach ich jetzt? Ich weiß es - ich spanne die Flasche in den Schraubstock. Das Glas ist ja so dick, das geht bestimmt nicht kaputt!« Vorsichtshalber wickelte er die Flasche in ein altes Handtuch, bevor er langsam und vorsichtig die Backen des Schraubstocks zudrehte.
»Jetzt sieht die Flasche auf einmal grün aus«, fand Philipp. »Das kommt wohl vom Handtuch. Das ist auch grün.« Mit beiden Händen fasste er die Bohrmaschine und setzte den Bohrer am hartnäckigen Pfropfen an, aber die Flasche begann zwischen den Backen des Schraubstockes zu rutschen. Philipp legte die Bohrmaschine auf der Werkbank ab, drehte den Schraubstock noch ein wenig fester – und plötzlich zerbarst die Flasche mit einem ohrenbetäubenden Knall!
Philipp stand vor Schreck wie gelähmt. Weißer Rauch erfüllte den Raum und sank nun langsam zu Boden. Zorro, der aufgehört hatte zu bellen, stand mit eingezogenem Schwanz in der Tür und jaulte. Der weiße Rauch schwebte über dem Fußboden, bildete einen Kringel und zerfloss wieder. »Was ist das?«, schoss es Philipp durch den Kopf. »Giftige Dämpfe? Säure? Gas?« Aber der Rauch war geruchlos. Er kringelte sich, floss wieder auseinander, kringelte sich von Neuem. Mit einem Mal wurde der Kringel kraftvoller, wirbelte schneller und schneller, bis er aussah wie eine Windhose. Unfähig sich zu rühren, starrte Philipp auf das seltsame Schauspiel. Plötzlich wurde der Rauch dichter und formte sich zu einer menschlichen Gestalt. Philipp wollte schreien, öffnete den Mund, aber der Schrei blieb ihm im Hals stecken. Zorro machte einen Satz nach vorne. Mit wütendem Kläffen sprang er an der Gestalt hoch, wollte sie mit seinen Zähnen packen - doch im gleichen Augenblick zerfiel die Gestalt wieder zu weißem Rauch. Winselnd wich Zorro zurück, während der Rauch sich wieder über den Fußboden kringelte, erneut zu wirbeln begann und wieder zerfloss.
Kalatur kämpfte einen schier aussichtslosen Kampf. Wenn es ihm jetzt nicht gelang, seine Energie zu konzentrieren, würde sie immer weiter auseinanderfließen. Es wäre sein Ende, er könnte sich unmöglich erneut materialisieren. Wäre das schwarze Tier nicht gewesen, hätte er es längst geschafft. Aber der Angriff hatte im sensibelsten Moment seine Konzentration gestört. Wie viele Jahrtausende hatte er auf den Augenblick seiner Befreiung gehofft, hatte sich vorgestellt, wie er durch den Flaschenhals nach oben strömen würde – aber mit dem Zerbrechen der Flasche hatte er nicht gerechnet. Unvorbereitet war seine Energie auseinandergeströmt, die durch die lange Gefangenschaft immer schwächer geworden war. Aber jetzt, jetzt musste er es schaffen! Seine Energie zentrierte sich, wirbelte aufwärts – und Kalatur fühlte, wie er wieder Gestalt annahm …