Название | Das Verschwundene Tal |
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Автор произведения | Dietmar Preuß |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783738098440 |
Der Hagere hatte sich einen Platz an einem Fenster gesucht, und um ihn herum war ein Halbkreis leerer Stühle und Bänke entstanden. Die Gäste vermieden es, in seine Richtung zu sehen, und Sello, der pickelige Schankgehilfe, weigerte sich, die Bestellung des unheimlichen Mannes aufzunehmen. Der Wirt musste selbst hingehen, und nach einer knappen Antwort flüsterte der Mann eine Frage, wobei er mit einem Kopfnicken zu Wulfiard hinüber deutete.
Der war verwundert, dass ein einzelner Ssadesti sich so offen und unbehelligt an einem öffentlichen Ort zeigen konnte. Die Bande dieses Ssadec Tabar musste in dieser Gegend viel Einfluss besitzen. Aber jetzt galt es, den nächsten Krug und vielleicht ein paar Münzen zu verdienen! „Habt Dank, Kesselflicker, für diese reiche Speise! Sie war so gut gewürzt, dass ich wieder einen gewaltigen Durst verspüre.“
Der Dicke grinste und nahm das handgroße Stück Pergament entgegen, das Wulfiard mit den Versen beschrieben hatte. In den Monaten, die er sich in den Bual-Bator herumtrieb, hatte er auch die schwierige Schrift beherrschen gelernt.
„Dafür musst du mit einem anderen deinen Spaß treiben, Haimamud.“
Wulfiard nickte, nahm seinen leeren Humpen und stellte sich wieder in die Mitte des Raumes.
„Wer ist der nächste?“, rief er, und augenblicklich hatte er wieder die Aufmerksamkeit aller Gäste. „Wer füllt mir den Krug, damit ich die nächste Geschichte erzählen kann? Keiner? Ich weiß, wer es sein wird“, rief er, drehte sich mit einem Ruck um und fasste den Mann mit den schwellenden Muskeln ins Auge, der aus seiner Nische heraus das Geschehen beobachtete.
„Ein Schmied sitzt in der Ecke so still.
Ich frage mich, was er wohl hier will?“
Die Augen der Gäste und Zuhörer wandten sich dem Mann in dem dunkelgrünen Wams zu, dem das gar nicht recht zu sein schien.
„Will er wohl eine Werkstatt eröffnen?
Und seltsames Volk mit Schwertern bewaffnen?“
Wulfiard war erstaunt, wie diese Worte wirkten, obwohl er sie mit Bedacht gewählt hatte. Viele Gesichter wandten sich dem Ssadesti zu und sofort wieder von ihm ab. In nicht wenigen war Bestürzung, ja Erschrecken zu lesen. Der Ssadesti warf einen Blick auf den Schmied, der ihm den Rücken zuwandte, zog die Stirn kraus, wandte sich ab und sah aus dem Fenster.
„Oder will er des Skalden Laune erhellen
und ihm einen vollen Krug noch bestellen?“
Die letzten Worte lösten die Anspannung, die plötzlich spürbar geworden war. Der Wirt begann laut zu lachen, und auch wenn es etwas gekünstelt klang, stimmten die Gäste ein. Immer noch traf der eine oder andere schnelle Blick den hageren Mann in dem schmutzigweißen Burnus mit der breiten Schärpe. Der tat, als ginge ihn das nichts an und starrte weiter aus dem Fenster.
„Lass dich nicht lumpen, Schmied!“
„Lass die Luft aus seinem Becher!“
„Wir wollen noch eine Geschichte hören.“
Bei so vielen ermunternden Zurufen konnte der Mann nicht anders. Er zeigte ein griesgrämiges Gesicht, stand auf und bahnte sich seinen Weg durch die volle Schänke zu Wulfiard hinüber, der sich hingesetzt hatte. Auf dem Weg ließ er sich an der Theke einen vollen Humpen vom Wirt geben, den er vor Wulfiard abstellte. Dabei beugte er sich zu ihm hinunter und legte ihm eine seiner riesigen Hände auf die Schulter. Für die Leute um sie herum mochte das wie eine freundschaftliche Geste wirken, aber Wulfiard durchzuckte ein Schmerz, der ihm fast den Atem raubte. Der Daumen des Schmieds bohrte sich mit unwiderstehlicher Kraft in das weiche Fleisch oberhalb seines Schlüsselbeins. Dennoch ließ sich Wulfiard nichts anmerken. „Nun, da kann ich ja wohl nicht anders, Haimamud. Hier ist dein Bier, aber beim nächsten Mal treibe deinen Schabernack nicht mit mir.“ Der Schmied sprach so, dass niemand mithören konnte.
Als Wulfiard nickte, ließ der Mann ihn los. „Aber natürlich! Willst du dich nicht setzten, Freund, und ich schreibe die Verse für dich auf?“, fragte er laut.
Der Bärtige mochte ihm an Kräften überlegen sein, aber mit diesen Worten zwang er ihn, sich niederzulassen, damit seine Ablehnung nicht das Aufsehen erregte, das er ja vermeiden wollte.
Der dicke Kesselflicker beugte sich herüber. „Ich habe dich noch nie hier gesehen, Schmied. Kommst du von weit her?“
„Von Chasar, aber sagt, was ist das für ein Mann in dem weißen Burnus, den alle so verstohlen beobachten?“, erwiderte der.
Will der Schmied von seiner eigenen Person ablenken? Wulfiard schien es, als tue er absichtlich unwissend. Wollte er nur in Erfahrung bringen, ob die Leute in Shuyuk allesamt Anhänger dieses Ssadec Tabar waren?
Das Gesicht des Kesselflickers wurde bei der Frage des Fremden zu einer Maske, und er kniff die Augen zusammen. „Hast du noch nie von Ssadec Tabar gehört, Schmied? Er ist der mildtätige Helfer der Elenden, der Gönner der Armen, der Herrscher über das Mirkashtal, der bald den Norden Bual-Bators in die Freiheit führen wird“, sagte der Kesselflicker, wobei er einen schnellen Blick in die Richtung des Räubers warf.
„Mirkashtal?“ Auch Wulfiard tat ahnungslos, denn er hatte schon von den Tuodden von diesem Tal gehört. Die Antwort des Dicken hatte für ihn wie auswendig gelernt geklungen.
„Das Verschwundene Tal wird es genannt, denn niemand ist in der Lage, es aufzufinden“, erklärte der Dicke. „Aber es ist nicht ratsam, zuviel Interesse an diesem Ort zu zeigen.“
„Was passiert denn dann? Der Mann da drüben scheint doch ganz harmlos zu sein“, sagte Wulfiard in naivem Tonfall.
„Seht ihr den Natterzahn in seiner Schärpe?“ Der Kesselflicker hatte sich weit vorgebeugt, so dass er jetzt beinahe in die Ohren Wulfiards und des Schmieds sprach. „Mit diesen Dolchen haben schon zahlreiche Bürger, Geweihte des Jungen wie des Alten Tengris, Büttel, ja selbst Murdirs Bekanntschaft gemacht, wenn sie den Wünschen Tabars nicht entgegengekommen sind. Es ist ihre Erkennungszeichen: Wer einen silbernen Natterzahn trägt, hat schon mindestens zwölf Mal im Namen Tabars gemordet. Der hier trägt sogar einen Dolch mit goldenem Griff, weil er die doppelte Anzahl Männer und Frauen ins Jenseits geschickt hat.“ Der Kesselflicker, der offenbar keine Anhänger der Ssadesti war, deutete auf die Gänsefeder, mit der Wulfiard in der Zwischenzeit den Vers für den Schmied niedergeschrieben hatte. „Eine seltsame Feder hast du da. Benutzt man solche in deiner Heimat?“
Auch der Schmied war interessiert und betrachtete das Schreibgerät. Wulfiard gab sie dem Kesselflicker in die Hand, aus der Innenseite der steifen Weste zog er eine weitere Feder hervor. Mindestens ein Dutzend in verschiedenen Farben steckte darin. Die Federn waren mit einem Metallröhrchen versehen, das eine schräge Spitze besaß. In das konische Ende passten die Federkiele hinein, und weil dieser Aufsatz etwa halbfingerdick war, konnte Wulfiard das Schreibgerät besser fassen. Die Vorrichtung hatte den Vorteil, dass mehr Tinte ins Innere passte und die Spitze der Feder nicht mehr nachgeschnitten werden musste. Wulfiard war stolz auf seine Erfindung, die allerdings ein Geheimnis barg, das er den beiden nicht verriet.
Eingehend betrachteten die Männer Wulfiards Erfindung, waren sie doch von Berufs wegen mit Metall befasst. Der Kesselflicker staunte, wie fein und gleichmäßig die Röhrchen gearbeitet waren, und prüfte die Spitze mit dem Zeigefinger. Sofort zeigte sich ein kleiner Blutstropfen auf der Kuppe. „Beim Alten Tengris, die muss ein sehr geschickter Feinschmied hergestellt haben“, rief er und steckte den Finger in den Mund.
„Diese Federspitzen habe ich selbst ersonnen und sie taugen auch zu anderen Zwecken“, sagte Wulfiard, verriet aber nicht