Lyrische Prosa. Rainer Maria Rilke

Читать онлайн.
Название Lyrische Prosa
Автор произведения Rainer Maria Rilke
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783753130293



Скачать книгу

musste leben! – Ja warum war sie denn dem Tode verfallen? – Sagte der Arzt nicht selbst kräftige Nahrung ... Die dunklen Brauen des Mannes zogen sich dicht zusammen. Weil er ein Bettler war, musste sie sterben. Nein – das sollte nicht geschehen. Jetzt vernahm er alles auf einmal. Die ermahnende Stimme des Arztes, das Drohen des Hausherrn, der ihn aus dem Hause jagen wollte, wenn er nicht sofort bezahlte, dazwischen das Ächzen der Kranken und den Jammer der Kinder, die Hunger hatten ... Das brach die Kraft des Mannes. Er ließ die Hand des Weibes los und sank starr in sich zusammen. Aber nur für einen Augenblick. Dann richtete er sich empor. Gilt ein Leben nicht soviel wie das andere? – Liegt es nicht noch in seiner Macht das teure Weib zu retten? Er braucht sich ja nur Geld zu schaffen ... Da draußen, das entlegene Comptoire seines Chefs ... Nur der alte Josef schläft dort im Vorraum – Der alte Kadaver leistet keinen Widerstand ...

      Er zuckte jäh zusammen. War das Mord? Und sein Blick fiel auf das in furchtbaren Schmerzen sich krümmende Weib, das eben die Augen aufschlug – so flehend, so hilfesuchend. Er riss sich empor. Es musste geschehen so oder so – Leben für Leben.

      Rau hieß er die Kinder sich an das Bett der Mutter setzen. Dann trat er nahe an den Herd. Machte sich dort mit den Flaschen und Töpfen zu tun, und steckte unbemerkt ein scharfes Messer ein. Ein langes, zweischneidiges. Ein anderes ließ er auf dem Rande der Herdplatte liegen. Die Sperrhaken und verschiedenartigen Schlüssel, so wie einige scharfe Instrumente trug er noch unter seinem Rock im Arbeitssack. Sonderbar, er hatte heute mehr Werkzeuge mit nach Hause genommen, als er sonst pflegte. Jetzt trat er noch einmal an das Bett. Beugte sich nieder und drückte einen langen Kuss auf die bleiche Stirn der Mutter, küsste auch Marie und hieß sie den Kleinen neben die Mutter betten. Dann ging er. Es war neun Uhr. Im ersten Stockwerk nur brannte ein mattes Licht, so dass es oben ganz dunkel war im Stiegenhause. Vor der Tür blieb er noch einmal stehen. Tiefe Stille. Da auf einmal hörte er Mariechen, und das Lallen des Kleinen dazwischen:

      »Vater unser, der du bist in dem ...«

      Eilig stieg er die enge Treppe hinab.

      Mählich lichtete sich die Nacht. Ein leichter rötlicher Dämmerschein spielte um die hohen, schwarzen Dächer. In den Straßen aber war es noch dunkel. Nur aus den Milchläden fiel das rote Gaslicht auf den Gangsteig und zeichnete dort einen lichten Kegel. Hie und da rollte ein linnenüberspannter Bauernwagen vorüber, der Waren für den Markt führte. Die Leute darauf hatten dicke Tücher um Hals und Ohren gezogen. Der Morgen war kalt. Auch dem Manne schien zu frieren, der in der Mitte der Straße so eilig weiterhastete. Er hielt beide Hände in den Taschen und wich den Wenigen, die des Weges kamen, – in großem Bogen aus. Von Zeit zu Zeit blieb er stehn und schaute sich um. Es war ihm als wankte ein alter Mann schreiend hinter ihm her eine weite klaffende Wunde in der Brust mit großen, blutigen Augen im halb zerschmetterten Schädel. Aber es war nur sein eigener Schatten, der ihm selbst bei jeder Bewegung ängstlich auswich. Und er stand wieder. War das nicht eine Blutspur was da hinter ihm herlief und so dunkel glänzte. Er zitterte. Er bückte sich, tauchte den Finger in die Wagenspur und führte ihn nah an die Augen. Es war fahler, grauer Straßenkot. Da kam ihms zum Lachen. Danach beschleunigte er seine Schritte noch mehr. Jetzt – jetzt hörte er hinter sich laufen. Sein Herz schlug nicht mehr. Er hielt den Atem an. Er musste sich am nächsten Laternenpfahl halten. Jetzt knapp hinter ihm – Jetzt ... Ein Bäckerbube trollte vorüber – »Bissel flott gezecht, Freunderl! Wie?« rief er dem Wankenden zu und verschwand in der nächsten Seitengasse. Der Mann aber raffte sich auf, und ging weiter. Er schleppte sich kaum. Es war ihm als ging er nun schon viele, viele Jahre so fort. Was vorher war, das wusste er nicht. Da klirrte das Geld in seiner Tasche – eilig drückte er die Hand darauf. Er wusste es doch. Aber er wollte schweigen davon. Es war nicht schön zu denken. Er spürte ihn noch in der Nase, diesen Geruch, von dem Schweiße des alten Mannes – von dem frischen Blute ...

      Da wurde schon eine Apotheke aufgemacht. Er ging hinein. Von dem starken Weine von dem Spanischen möcht' er. Der verschlafene Lehrling achtet nicht auf den Mann. Er geht das Verlangte holen. Dem Arbeiter aber scheint es, als habe er in einem fort seine rechte Hand betrachtet. Da richtig – ein kleines Fleckchen – braunrot auf dem Hemdärmel. Er steckte ihn tief unter den Rock – ... tief ... Aber da war es ihm, als wüchse die grobe Leinwand innen von neuem über der Hand hervor und darauf ein Fleck so groß – so groß. Der Lehrling gähnte und nannte den Preis, während er die Flasche, sie in den Händen drehend, in ein rotes Papier einschlug. Der Mann bezahlte. Seine Hand zitterte, es war blankes, blankes Silber. Ohne Gruß ging er.

      Endlich war er beim Hause. Das Thor war noch verschlossen. Er öffnete mit dem großen Schlüssel mühsam und ängstlich. Die schwere Tür fiel hinter ihm jäh in's Schloss. Der Hausmeister, der zufällig über den Gang schritt, sah den Mann misstrauisch an und murmelte etwas von – Gesindel. Der aber war schon atemlos im vierten Stockwerke angelangt. Mariechen stand auf der Schwelle und weinte: »Vater«, rief sie ihm entgegen, »Vater ich fürcht mich. ... D'Mutter, d'Mutter ...«

      Der Unglückliche ahnte Alles. Er stürzte ans Bett. Da lag sein Weib starr und still. Die Augen waren weit, weit offen, aber verschwommen und ohne Ausdruck. Die blauen Lippen halb geöffnet, als wollte sie Luft schöpfen oder reden ... Die Hände so kalt, ... er begann sie zu reiben, zu rütteln ... Alles, Alles umsonst. Da übermannte ihn eine Wut, eine Verzweiflung, er warf das blanke Geld auf die grauen Dielen dass es dröhnte und Marie erschrocken zur Seite sprang. Der Kleine aber erwachte, zupfte an der Decke der Mutter, und als diese still blieb, begann er zu lächeln, in die Händchen zu schlagen, und hatte seine Freude an den hellen, glänzenden Silberstücken, die da auf dem Boden so toll durcheinanderkollerten. Der Vater aber war über dem toten Weibe zusammengebrochen. Mariechen wagte sich nicht zu rühren, und das Bübchen war zufrieden mit dem neuen Spielzeug.

      Endlich richtete der Mann sich auf. Er schickte die Kinder fort. Sie sollten in den Hof gehen und nicht kommen, bis er sie riefe. Als die beiden aber schon an der Türe waren, rief er sie zurück. Küsste das Mädchen oft auf die blasse Stirn, und herzte auch den Kleinen bis dieser, ob der ungewohnten Liebkosung in Tränen ausbrach. Jetzt hieß er sie gehen.

      Ächzend stand er auf, ging zur Tür und verriegelte sie von Innen. Dann legte er den Rock ab, – setzte sich auf den Bettrand zu seinem toten Weib und verharrte eine Weile regungslos. Jetzt begann er nochmals die kalten Glieder zu reiben und auf die bleichen, gespannten Lippen zu hauchen. Und ihm war, als stiege eine leichte Röte in die eingefallenen Wangen. In fieberhafter Hast holte er die Flasche mit dem Weine, brach ihr den Hals an der Sessellehne, und flößte aus der hohlen Hand einige Tropfen den klaffenden Lippen ein. Aber es füllte sich nur die Mundhöhle und dann floss der dickflüssige rote Trank der Toten über das bleiche, spitzige Kinn. Da schien es ihm es wäre Blut! Er warf die Flasche von sich. Hat er auch dieses Weib gemordet? Sein Weib? – Ein Schauer schüttelte die nervigen Glieder.

      Er glitt vom Bettrand herab – und sank vor einem alten verblichenen Christusbilde – dem einzigen im Zimmer – auf die Knie. Er hob die breiten, braunen Hände hoch über den Kopf. Seine Lippen zitterten. Vielleicht betete er. Aber laut schrie er nur: Jesus Maria!

      Es war indessen ganz Tag geworden. Er erhob sich. Er wankte ein paar Mal in der Stube umher; dann trat er an das Fenster. Graue, leichte Wolken deckten den Himmel, da und dort aber blickte ein Stückchen blasses Blau hervor. Er wandte sich jäh um, trat an den Herd. Dort lag noch das Messer, jenes zweite. Er setzte sich auf den Rand der Platte. Die Augen weit in die Ferne gerichtet, leer und gleichgültig; er fasste die Klinge. Langsam durchschnitt er die Pulsadern. Keine Muskel zuckte in seinem fahlen Antlitz. Dann bemerkte er das Blut. Das Blut, das von seinen Handgelenken niederrann. Er fürchtete dieses Blut. Er wollte ihm entfliehn. Er sprang auf. Aber schon an dem Bette seines Weibes sank er kraftlos nieder. Quer über sie lag er. Langsam aber reichlich quoll das rote Blut unter den Hemdärmeln hervor und versickerte in dem rohen Leinen des Bettuches.

      Durchs Fenster aber blickte die kalte Märzsonne. Ein Strahl verirrte sich in die Stube und spielte wie ein glückseliges Lächeln um die Lippen der Toten. Im Treppenhause dröhnten schwere Schritte und klirrten Säbel.

      Aus dem Hofe aber scholl leise Mariechens helle Kinderstimme, die das heute so früh gestörte Brüderchen einwiegte:

      Schlaf, schlaf fein sacht...

      Schutzenglein