Oliver Hell - Todesklang. Michael Wagner J.

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Название Oliver Hell - Todesklang
Автор произведения Michael Wagner J.
Жанр Языкознание
Серия Oliver Hell
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783738086508



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es vielfach überfrachtet und überfordert ist. Und wenn ihr euch jetzt fragt, ob ich noch richtig ticke, dann hört erst einmal zu. Alle Symptome, die bei den Kindern auftauchen, können in einer abgemilderten Variante auch bei Erwachsenen beobachtet werden. Schwierigkeiten mit Planung und Organisation sind zum Beispiel typische ADHS-Symptome. Erwachsene erreichen daher im Berufs- und im Privatleben oft nicht die Ziele, die sie sich ursprünglich gesteckt hatten. Ron Baum war der Mann einer erfolgreichen Beamtin, jedenfalls war sie das, bevor sie an Depression erkrankte. Er hat sich im Glanz seiner Ehefrau eingerichtet, da fiel es nicht so auf, dass er nur ein kleines Licht war. ADHS bei Erwachsenen äußert sich häufig in Verhaltensweisen, die auf die Umwelt befremdend und nachlässig wirken können. Ron Baum galt als kauzig, aber ungefährlich. Bis zum Tod seiner Frau jedenfalls.“ Meinhold machte eine kurze Pause.

      „Problematisch sind zum Beispiel die fehlende Ausdauer sowie Verspätungen und Unordnung. Die Unfähigkeit, sich längere Zeit auf eine Sache zu konzentrieren, hat zur Folge, dass die Betroffenen Aufgaben vergessen oder nur teilweise erledigen. Daher sind die Betroffenen häufig selbstständig, können so ihre Launen mit ins Leben einplanen, ohne dass es dem Umfeld auffällt. Können sie sich aber für ein Thema begeistern, können sie sich mit großer Ausdauer darauf fokussieren. Baum war Spezialist für Fälschungen aller Art. Das war sein Metier, da kannte er sich aus. Erwachsene mit ADHS handeln häufig impulsiv. Sie treffen Entscheidungen spontan aus dem Bauch heraus. Auch ihre Stimmung kann schnell umschlagen.“

      „Das klingt für mich alles schlüssig. Warum war Baum deswegen nicht in Behandlung?“

      „Eine berechtigte Frage, Sebi“, antwortete Christina Meinhold. „Ich gehe davon aus, dass er es entweder geschickt verbergen konnte oder völlig ahnungslos war. Es kann sein, dass man mit ADHS durchs Leben kommt, ohne auch nur zu wissen, dass man es hat.“

      „Was ich mich jetzt allerdings frage, ist, wie kommt denn diese Erkrankung mit seinem Gemütszustand zusammen? Um es ganz gelinde auszudrücken, Baum hat doch mächtig einen neben sich gehen.“

      Christina Meinhold nickte und kratzte sich hinter dem Ohr. Hier lag zugegeben die Schwachstelle ihres Profils.

      „Wie ich schon gesagt habe, Erwachsene mit ADHS sind manchmal recht schwierige Zeitgenossen. Auf Kritik reagieren sie äußerst sensibel und sind schnell verletzt. Gleichzeitig sind sie nicht zurückhaltend, wenn sie anderen gegenüber richtig deftig austeilen können. Sie haben eine geringe Stress- und Frustrationstoleranz, sind oft aggressiv. Die verminderte Fähigkeit, Impulse zu steuern, wirkt sich vor allem in Kombination mit Stress negativ aus. Neue Situationen und Aufgaben sind daher eine große Herausforderung für sie. Neues erzeugt Stress, den sie aufgrund ihrer mangelnden Organisationsfähigkeit nur schlecht bewältigen können. Laufen dann die Dinge nicht wie erhofft, sind sie oft stark frustriert. Baum ist sicher komplett ausgerastet, als er von der Schwärmerei seiner Frau für Oliver Hell erfuhr. ADHS-Symptome sind häufig Gereiztheit und Jähzorn. Was uns aber mehr interessiert, ist das Auftreten weiterer psychischer Störungen im Zusammenhang mit ADHS. Symptome, wie zum Beispiel starke Ängstlichkeit oder Niedergeschlagenheit, können ein Hinweis auf eine Angststörung oder Depression sein. Ein erhöhtes Risiko für Depressionen und Ängste besteht immer, ebenso leiden sie auch häufiger unter Persönlichkeitsstörungen. Ein mit Medikamenten gut eingestellter ADHS-Patient kann aber völlig unauffällig leben. Das muss uns jetzt erst einmal reichen. Wir wissen, wen wir suchen und wenn wir den Kollegen zu viel Informationen an die Hand geben, verwirrt sie das nur.“

      „Wenn ich dich richtig verstehe, dann kann es sein, dass er versucht, illegal an seine Pillen zu gelangen, damit er nicht auffällt?“

      „Ja, das kann sein. Frage bitte in der Klinik nach, was er für Medikamente erhalten hat und ob sie einen Diebstahl dieses Präparats bemerkt haben“, antwortete Meinhold und Klauk griff sofort nach dem Zettel, den er zuvor so achtlos über den Tisch geschubst hatte. „Wird sofort erledigt!“

      „Lernt man das alles in den Profiler-Lehrgängen?“, fragte Lea Rosin.

      „Nein, ADHS ist ein Steckenpferd von mir“, antwortete Meinhold und alle außer Rosin erinnerten sich sofort an den Disput, den sie vor Jahren mit Dr. Franziska Leck hatte, als diese noch nicht Hells Partnerin war. Wendt grinste und war insgeheim froh, dass Meinhold wieder zurück im Team war. Und wenn ihn sein Gefühl nicht trog, war sie besser als jemals zuvor. Früher war es ihre Stärke, menschliche Schwächen zu erkennen und um die Ecke zu denken. Jetzt wusste sie noch mehr über diese Schwächen und wann es sich lohnte, um die Ecke zu denken. Ohne stur auf ihrem Standpunkt zu beharren. Es konnte nur besser sein als zuvor mit ihr zusammen zu arbeiten.

      „Wir sind gut aufgestellt“, sagte Wendt und rang sich ein Lächeln ab.

      „Das müssen wir sein“, antwortete Meinhold.

      „Wir sind es, Chrissie, wir sind es!“

      Das Team funktionierte prima. Die Bonner Mordkommission konnte sich mit einer der höchsten Aufklärungsraten in Nordrhein-Westfalen rühmen und im Bundesschnitt standen sie auch hervorragend da. Und warum war das so? Weil Sie mit Brigitta Hansen eine erfolgreiche Staatsanwältin als Vorgesetzte hatten, die sich auf dieses Experiment eingelassen hatte. Die Idee, mit Meinhold einen der Bonner Kriminalisten zum Profiler ausbilden zu lassen, war bei vielen anderen Dienststellen auf Neid gestoßen. Was sie aber nicht davon abgehalten hatte, Hell und sein Team in dieser Zeit so gut es ging zu unterstützen. Und mit Farai G. Akuda hatten sie einen weiteren Spezialisten aus dem hohen Norden nach Bonn geholt, der seine Qualitäten mittlerweile auch schon unter Beweis stellen durfte. Das Konzept war anfangs sehr umstritten, doch mittlerweile verstummten die Stimmen der Skeptiker immer mehr.

      „Wir sind das beste Team im Rheinland, schon vergessen, Chrissie?“, fragte Wendt.

      „Aber ich bin jetzt schon eine Weile aus dem Geschäft. Hoffentlich klappt alles so wie früher.“ Ihre Skepsis schien ernst gemeint, kein fishing for compliments.

      „Du bist jetzt die große Leuchte hier im Team. Es ist jetzt deine Aufgabe, die Psychos zu entlarven. Baum ist deine erste Bewährungsprobe“, sagte Wendt und grinste.

      „Eben, genau das ist es.“

      Wendt stand auf und klopfte Meinhold auf die Schulter. „Ich bin wie immer einen Schritt hinter dir, Chrissie. Ganz nebenbei, wie sieht es eigentlich mit deinem Schießtraining aus? Du bist doch nicht etwa in der Profiler-Schule komplett verweichlicht und triffst keinen Schurken mehr, der auf dich zukommt?“

      Meinhold warf keck den Kopf in den Nacken. „Finde es heraus. Nachher unten auf dem Schießstand?“

      „Stets zu Ihren Diensten, Frau Profiler!“

      Meinhold strahlte, als Wendt den Besprechungsraum verließ. Das hatte sie vermisst. Die Neckerei unter den Kollegen, den Zusammenhalt. Auch wenn es oft gefährlich war und sie nicht immer einer Meinung waren. Auf diese Leute konnte sie sich blind verlassen. Wie wichtig das in den nächsten Tagen sein sollte, konnte Christina Meinhold in diesem Moment noch nicht ahnen. Sie seufzte und nahm an ihrem angestammten Schreibtisch Platz. Nachdem sie den PC hochgefahren hatte, öffnete sie den Browser und surfte durch die internen Nachrichten der Bonner Polizei.

      „Sie haben ihm verschiedene Mittel verabreicht“, sagte in diesem Moment Sebastian Klauk vom Nebentisch. Meinhold erschrak fast, weil sie so tief ins Lesen vertieft gewesen war.

      „Hmh, lass hören.“

      Klauk betrachtete die Großbuchstaben, die er auf dem Zettel notiert hatte. Wie ein Erstklässler las er vor: „Natriumoxybat und Modafinil. Sagt dir das was?“

      „Ja, das tut es Sebi. Das eine ist gegen die Kataplexien, das andere gegen die Tagesschläfrigkeit. Haben sie Diebstähle zu verzeichnen?“

      Klauk zuckte mit den Schultern, setzte seine Brille mit einer linkischen Bewegung zurück auf die schmale Nase. „Sie müssen erst die Bestände nachprüfen. Die Ärztin meldet sich bei mir.“

      Meinhold stand schnell auf und trat zu Klauk an den Schreibtisch.

      „Das dauert zu lange. Wir müssen die Apotheken verständigen. Baum ist ein Fälscher.