Название | Seltene Erde |
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Автор произведения | Eva Raisig |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783751800631 |
Und dort willst du jetzt hin oder was?
Klar. (Zögern. Dann sehr schnell:) Kommstdumit?
Ha, nein! Was soll ich da? Und was willst du da?
Lenka sieht aus, als würde sie die Frage nicht verstehen. Weißt du, sagt sie langsam, ich denk mir manchmal: Auf die Menschen ist nicht zu setzen.
Hier entsteht eine Lücke. Sie sehen einander an. Der Bus schnauft. Ein Moment verstreicht, dann sagt Lenka: Vermutlich suche ich einfach einen Ausweg.
Therese betrachtet die dürre Gestalt an ihrer Seite und die Finger, die ein schmales Handgelenk umgreifen. Wie sie davon spricht: als würden all ihre Hoffnungen darauf ruhen. Wann trifft man schon einmal eine Person, die eine Sehnsucht hat, auf der all ihre Hoffnungen ruhen. Überhaupt: alle Hoffnungen! Therese lehnt sich langsam zurück, ohne Lenka aus den Augen zu lassen. Wahrscheinlich ist schon Abendessenszeit. Sie hätte längst zu Hause anrufen müssen, die Mutter wird ihr Vorwürfe machen. Sie muss sich bei der Großmutter melden. Überlegen, wie es weitergehen kann. Sie drückt die Schultern in die Rückenlehne. Einen Ausweg, ja, einen Ausweg müsste man haben.
Es gibt Gründe, irritiert zu sein.
Man könnte sich der Irritation hingeben. Überlegen, was aus der Irritation werden könnte. Eine Verstörung. Eine Gelegenheit. Oder eben: ein Ausweg. Vergessen, dass man eigentlich in einer Situation ist, in der Entscheidungen getroffen werden wollen. Sich der Idee hingeben, einfach nicht zurückzukehren. Das Kind, verschollen in Russland. Tragisch ist das. Der einzige Weg ins Freie, der offensteht. Sich im Schaukeln des Überlandbusses auf dem zerschlissenen Sitz zurücklehnen und diese Person betrachten, über die man da gestolpert ist. Denken: Alles könnte anders sein.
Ein paar Tage später, kurz vor Thereses Abflug, ruft dann die Mutter an und sagt, die Großmutter sei gestorben. Tatsächlich sagt sie: Die Oma hat es geschafft.
Ist sie tot?
Hörbare Verunsicherung am anderen Ende. Der Verunsicherung mit Details begegnen. Die Mutter erzählt von der blau verfärbten Zunge der Großmutter. Eine Folge des Kontrastmittels. Das helle Dreieck um den Mund habe die Pflegerin schon am Abend bemerkt und gesagt, nun könne es nicht mehr lang dauern. Und dann in den frühen Morgenstunden. Dass das üblich sei oder statistisch gesehen die Regel. Die ganz Alten sterben oft in den frühen Morgenstunden.
(Was habe ich gestern in den frühen Morgenstunden gemacht.) Therese?
Woher weißt du das, warst du dabei?
Sie haben es mir erzählt. (Als nichts kommt:) Ach Therese. Wie stellst du dir das vor. Wir konnten doch nicht die ganze Zeit … Bist du noch dran –?
Die Mutter versucht es mit weiteren Einzelheiten, von der ordentlich hergerichteten Großmutter, eine Hand auf der anderen, aber nicht gefaltet, immerhin, in sehr glatter Bettwäsche. Therese denkt an die geschwollenen Fingerknöchel und den benoppten Hartgummiring, den die Großmutter vor dem Fernseher knetete. Die Mutter weiter: dass sie keine Schmerzen hatte. Friedlich aussah zum Schluss.
Hat sie noch etwas gesagt?
Nein, sie hat gar nicht mehr gesprochen. Aber ihren Schokopudding hat sie mir geschenkt am Abend vorher.
Da kann Therese endlich heulen. Sie will ihren Flug umbuchen, aber Kind, das bringt doch nichts, sagt die Mutter, du kannst hier doch nichts machen, wir sehen uns am Donnerstag, ich hole dich ab. Zwei Tage später stehen sie voreinander an der Schiebetür in der Ankunftshalle und jede zuckt einmal kurz nach vorn und beide bemerken es gleichzeitig und geben sich dann gleichzeitig diesen Ruck, den man sich gibt manchmal, und umarmen sich.
Als Therese zurück nach Deutschland kommt, ist das Zimmer im Pflegeheim längst ausgeräumt. Das Heim war eines der besseren, mit Gedächtnistraining an den Abenden, Hauskonzerten, zweimal im Jahr einem Geriatrieclown. Trotzdem hing in irgendeiner Ecke immer der Geruch von Pisse und einer der Alten war immer ungekämmt oder hatte noch das Stückchen Ei vom letzten Frühstück auf der Strickjacke. Die Haare der Großmutter auf einer Seite plattgedrückt. Ihr Blick: Kann ich nicht wieder zu euch?
Die Großmutter hatte bei ihrem Auszug aus dem Haus darauf bestanden, zumindest den Sekretär mitzunehmen. Jetzt lagert er zusammen mit dem spärlichen Rest des Mobiliars unter einer Plastikplane vor der elterlichen Garage und tatsächlich ist er das einzige Teil, das sich auf die Schnelle problemlos verkaufen lässt. So ein schönes Stück. Der Selbstabholer streicht über das Holz, kratzt in den Gängen der Holzwürmer und sagt, das könne man alles machen lassen. So eine Qualität gibt’s ja heute gar nicht mehr. Und das da – er fährt mit dem Zeigefinger über die fünf eingeritzten Buchstaben im Seitenfach: MERDE –, das lässt sich abschleifen. Oder ich lasse es so. Er lächelt.
Der Selbstabholer bezahlt, ohne zu handeln, und zurrt den Sekretär auf einem Anhänger fest. Therese ist schon auf dem Weg zurück ins Haus der Eltern, als er ruft, hier, das wollen Sie doch bestimmt behalten, und ihr das Foto entgegenstreckt. In eines der seitlichen Regalbretter muss es gepinnt gewesen sein, dort, wo die Taschenkalender mit den Plastikeinbänden gestanden haben. Über Jahrzehnte das beinah gleiche Modell. Nur wenn man die ersten und letzten Exemplare aneinanderhielt, ließ sich eine veränderte Aufmachung feststellen, zwischen benachbarten Jahrgängen nur Nuancen. Ab einem gewissen Punkt, hatte die Großmutter gesagt, hatte alles seine Ordnung in meinem Leben. Das Bild ist ein Schnappschuss, offenbar vor dem Kirchgang. Therese kennt es nicht, hat überhaupt nie jemals ein Bild von der Schwester gesehen. Ist doch alles verbrannt, hatte die Großmutter gesagt. Im Hintergrund ein Dorfplatz, die Kirche. Nicht ganz scharf. Beide mit Rock und Bluse, links eindeutig die Großmutter, die Stirn, die Augenpartie, in die Kamera lächelnd. Daneben mit Baskenmütze, eingehakt, die andere. Sie trägt den Pelzmantel offen und lacht, man sieht ihre Zähne. Das Foto ist abgegriffen und in der linken Bildhälfte ein schmaler Streifen von der Sonne gebleicht. Zwischen den Köpfen der beiden die Einstiche von Reißzwecken.
Danke, hab ich vergessen, sagt Therese zu dem Selbstabholer, der vor ihr steht, als erwartete er eine Erklärung. Oder meine Mutter hat es vergessen. Die hat den Sekretär ausgeräumt.
Im Hausflur dreht Therese das Foto um. Meiner geliebten Schwester, steht dort geschnörkelt auf der Rückseite, im herzlichen Angedenken an unsere schöne Jugendzeit. Von deinem Darling Lene.
Die Beerdigung findet erst eine Woche nach Thereses Rückkehr statt, weil um diese Jahreszeit viele sterben. Exakt eine halbe Stunde dauert die Zeremonie, ohne dass ein Blick des Pfarrers auf die Uhr aufgefallen wäre. Die Mutter hält ein Taschentuch zwischen den gefalteten Händen. Dasitzen und nicht weinen können. Als sie sich später von den Bänken erheben und den vier Männern zum Seiteneingang folgen, die den Sarg aus der Halle tragen, betritt durch die Eingangspforte schon die nächste Trauergemeinde den Raum. Therese dreht sich an der Tür um, man nickt sich zu. Dann ist auch das vorbei.
Wenige Monate später ist der bürokratische Teil erledigt und Therese hat den glatten Betrag von zweitausend Euro auf dem Konto. Sie gibt ihre Embryonalstellung auf dem Bett im Wohnheim auf, läuft einen Nachmittag ohne besonderes Ziel durch die Stadt, sucht am Abend aus ihrem Kalender den Zettel heraus mit der erstaunlich kleinen Handschrift und schreibt der Frau aus Russland. Schreibt: Ich komme mit. Lenka antwortet: Was ist passiert? Und als nichts zurückkommt: Ich weiß es nicht, aber das freut mich sehr, Therese, sehr.
Als sie beschließt, in Lenka einen Ausweg zu sehen, ist es nüchtern betrachtet nicht mehr als ein Nachmittag auf einer Bank am Finnischen Meerbusen, ein Tagesausflug zu einem Stadtjubiläum und ein Gang über einen Vorstadtfriedhof, was die beiden verbindet. Außerdem