Unter der Sonne geboren - 2. Teil. Walter Brendel

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Название Unter der Sonne geboren - 2. Teil
Автор произведения Walter Brendel
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783966511872



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Worte genügten. Madame Royale begriff. Zwar stürzte das ganze wunderbare Gebäude ihrer ehrgeizigen Hoffnungen bei dieser Erklärung in sich zusammen, doch die einstige Prinzessin von Frankreich wusste, dass ihre Schwägerin nicht anders handeln konnte. Trotzdem brach Madame Royale in Tränen aus. Sie sagte kein Wort, sondern weinte nur leise vor sich hin, ohne sich vor ihrer Schwägerin zu schämen.

      „Zwei Dinge verlange ich“, sagte sie, als sie sich wieder in der Gewalt hatte. „Erstens, dass es meine Tochter ist, die erklären wird, sie habe sich gegen die Heirat mit dem König entschieden.“

      Anna nickte. Jede junge Dame der hohen Gesellschaft hatte ihren Marktwert, der von vielem abhing. Eine abgewiesene Braut konnte nicht mehr viel verlangen. Zumindest musste ihre Mitgift um einiges erhöht werden, sollte sie ihren Status nicht ganz verlieren. Was es für das betroffene Mädchen aber persönlich bedeutete, zurück-gewiesen zu werden, wog noch viel schwerer. Anna wusste, was sie ihrer Schwägerin und ihrer Nichte antat. Doch allein das Wort „Staatsräson“ genügte, um jeder Rücksichtslosigkeit Absolution zu erteilen. „Und zweitens?“, fragte sie.

      Madame Royale trocknete ihre Tränen mit einem Spitzentuch. „Francoise von Orleans!“, sagte sie entschlossen. „Die älteste Tochter aus der zweiten Ehe unseres Schwagers Gaston. Ich habe ihr Porträt gesehen. Sie ist bildhübsch.“ Wieder fing sie zu weinen an. „Wenn schon meine Tochter nicht glücklich sein darf, soll es wenigstens mein Sohn sein.“

      Anna nickte. „Einverstanden.“

      Sie erhob sich und gab damit als Ranghöhere das Zeichen zur Beendigung des Gesprächs. Dabei schoss ihr die Frage durch den Kopf, ob sie wirklich noch die Ranghöhere war. Immerhin war Madame Royale Regentin ihres Landes und sie, Anna, nur noch die Königinmutter ... Daran werde ich mich nie gewöhnen!, dachte sie erbittert und tröstete sich damit, dass sich Frankreich und Savoyen ja wohl nicht miteinander vergleichen ließen. Bei einem gleichrangigen Land hätte man sich einen Affront wie diese Reise auch nicht erlauben können. Man schenkte der verschmähten Braut prachtvolle Ohrringe aus zwei riesigen Diamanten, umschlossen von schwarzem Email. Marguerite bedankte sich artig bei ihrer Tante. Danach Verabschiedete man sich in großer Förmlichkeit. Niemandem fiel auf, dass Marguerite ihrem falschen Bräutigam noch nie ins Gesicht geblickt hatte.

      Dann setzten sich die Wagenkolonnen in entgegengesetzter Richtung wieder in Bewegung. Die Stimmung der Franzosen war ausgelassener denn je, die Savoyer waren bedrückt. „Ich bin froh, wenn wir wieder in Turin sind“, sagte Madame Royale zu Marguerite. „Frankreich war meine Heimat, aber es ist mir fremd geworden.“

      Sie drückte die Hand ihrer Tochter, die alles so geduldig ertragen hatte. Nun aber, in der engen Abgeschiedenheit der Kutsche fing sie an zu weinen und gestand, sie schäme sich so.

      Marie war überzeugt, dass die Entscheidung gegen die savoyardische Heirat von Ludwig gekommen war, und sie wunderte sich nicht darüber. Sie hatte ihn beobachtet, wie er auf dem Ball seine künftige Braut begrüßte: ehrerbietig, galant und fürsorglich. Welch eine Erleichterung war es da für Marie gewesen, dass das junge Mädchen keine Reaktion zeigte! Wie eine wohlerzogene Puppe hatte sie ihre Rolle gespielt, bis auch Ludwigs Bemühungen immer schwächer wurden. Trotzdem hatte es Marie wehgetan, ihn mit einer anderen zu sehen, die vielleicht bald ein Anrecht auf ihn haben würde. Wir sind doch nur Freunde!, versuchte sich Marie selbst zu beruhigen. Doch die Musik erfüllte den Saal, und jeder hatte jemanden, der irgendwie zu ihm gehörte. Nur sie selbst saß allein da und wurde von niemandem beachtet. Das königliche Licht, das sie in den letzten Wochen so hell beschienen hatte, erstrahlte nicht mehr für sie. Es fiel auf eine andere, die jedoch nichts damit anzufangen wusste. Er gehört mir, dachte Marie und wunderte sich selbst über diesen Einfall. Ich will ihn nicht hergeben!

      Als Ludwig noch in derselben Nacht von seiner Mutter erfuhr, dass sich der spanische König gemeldet hatte, verstand er nur eines: Die Hochzeit mit seiner Cousine aus Savoyen würde nicht stattfinden! Zugleich dachte er, dass durch diese Entscheidung zumindest vorläufig alles so bleiben konnte wie bisher. Weiterhin würde er sich mit Marie treffen. Sie würden auf die Jagd gehen, tanzen, musizieren und gemeinsam lesen. Weiterhin würde Marie manchmal ganz nahe bei ihm sitzen, dass sich ihre Arme berührten, und manchmal, wenn sie den Kopf drehte, würde ihn ihr Atem streifen. Wir sind doch nur Freunde!, dachte auch er und eilte zu den Gemächern, die sie bewohnte. Er hämmerte an die Tür, bis Madame de Venel öffnete.

      „Sire!“, rief die Gouvernante vorwurfsvoll. „Es ist ungehörig ...“

      Doch Ludwig unterbrach sie. „Sagen Sie Mademoiselle Mancini, die Hochzeit findet nicht statt!“ Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.

      Madame de Venel wurde blass. „Aber Sire ...!“

      „Sagen Sie es ihr!“ Danach lief er durch die winkeligen Gänge zu seinem Schlafgemach.

      Zwei Mal verirrte er sich und musste nach dem Weg fragen. Man erklärte es ihm und schaute ihm verwundert nach. Er war wie betrunken und fragte sich, was mit ihm geschehen war. Dann wusste er es auf einmal: Er war glücklich! Erst jetzt begriff er, was das war: Glück! Wie oft hatte er davon gelesen und auch mit Marie darüber gesprochen. Doch erlebt hatte er es noch nie. Vielleicht, weil er noch nie geliebt hatte? Bisher!, dachte er, während er nach seinen Gemächern suchte. Nun aber war alles anders. Marie Mancini, mit der er so viele Stunden verbracht hatte, war für ihn mehr geworden als nur eine gute Freundin. Ich bin verliebt!, dachte er und hatte alle anderen vergessen, von Catherine de Beauvais angefangen bis zu Olympia. Von jetzt an sollte es nur noch eine einzige Frau für ihn geben: die aufregende kleine Marie mit ihrem pechschwarzen Haar und ihren funkelnden Augen, so dunkel wie die Nacht.

      Endlich fand er doch noch zu seinem Zimmer. An La Porte vorbei stürmte er hinein und ließ sich aufs Bett fallen.

      „Haben Sie noch einen Wunsch, Majestät?“, fragte La Porte besorgt.

      Ludwig konnte nicht begreifen, dass es einen Menschen gab, der in diesem Augenblick so ernst sein konnte. „Tausende Wünsche, Monsieur Pierre!“, rief er. „Aber jetzt lassen Sie mich erst einmal allein!“ Als die Tür hinter La Porte zugefallen war, hämmerte Lud-wig mit den Fäusten auf das Kissen. Er wusste nicht, wohin mit all dem Glück, das ihn auf einmal erfüllte. Marie!, dachte er immer nur. Ob sie auch so fühlte wie er? Er konnte es kaum erwarten, sie am nächsten Morgen wiederzusehen, und er war viel zu aufgeregt, um einschlafen zu können.

      Ein König dürfe vom Schicksal mehr erwarten als gewöhnliche Menschen, hatte man Ludwig als Kind gelehrt. Macht gehöre dazu, sie vor allem. Dazu aber auch Ehre, Ruhm und Reichtum. Von Liebe und Glück war nicht die Rede gewesen. Beides hatte Ludwig auch nie wissentlich angestrebt, obwohl er meinte, Anspruch darauf zu haben, dass man ihn verehrte. Vielleicht war Verehrung aber nur die verschleiernde Bezeichnung für ein Gefühl, das eigentlich Liebe war.

      Aus eigener Erfahrung war seine Mutter überzeugt, dass ihr Sohn sein ganzes Leben lang nicht lernen würde, Menschen zu widerstehen, die ihm Liebe oder Verehrung entgegenbrachten oder vorgaukelten.

      Auch jetzt wartete er darauf. Jetzt vor allem, als sein Herz klopfte, weil er kaum erwarten konnte, Marie wiederzusehen, von der er einen Abend und eine Nacht lang getrennt gewesen war - eine Ewigkeit, wie es ihm auf einmal vorkam.

      Dann sah er sie. Sie stand mit Madame de Venel vor ihrer Kutsche und wartete auf das Signal zum Einsteigen. Es war ein kühler Morgen. Ein frischer Wind hob die bunten Federn auf Maries breitkrempigem Hut, der ihr Gesicht zur Hälfte verbarg. Sie schien zu frösteln in ihrem schwarzen Samtkostüm mit dem engen Mieder, das sie schon von ferne zart und schmal erscheinen ließ. Während Madame de Venel mit dem Kutscher Wegen des Gepäcks verhandelte, stand Marie schweigend da, in sich gekehrt, als wüsste sie nichts mit sich anzufangen. Dabei musste sie doch wissen, dachte Ludwig, dass sich mit dem Ende der Brautschau auch für sie alles verändert hatte. Die spanischen Pläne waren ihr sicher nicht bekannt. Noch waren sie geheim, und auch Ludwig war nicht bereit, über sie auch nur nachzudenken. Er glaubte an die Zukunft. Das Schicksal musste auf Seiten der Liebenden sein.

      Ein paar Schritte von Marie entfernt blieb Ludwig stehen und wartete darauf, dass sie ihn wahrnahm. Und nun sah sie ihn auch! Sie forschte in